Die Grenzen des idealistischen Aktivismus

Das ökonomische System der Bundesrepublik Deutschland und anderer westlicher Demokratien hat sich in den letzten 40 Jahren als stabil gegen jede Form des politischen Aktivismus von links erwiesen. Dagegen konnten rechtsradikale Bewegungen bedeutende politische Erfolge verzeichnen. Den vorerst größten Sieg feierte der rechtsradikale Aktivismus, als durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten ein rechtsradikaler Populist die politische Macht in den USA eroberte. Der linke sowie der klima- und umweltpolitische Aktivismus geht dagegen seit Jahrzehnten unbeirrt seinen Weg von Niederlage zu Niederlage. Ob linke Identitätspolitik eine Reaktion auf die frustrierende Geschichte des linken Aktivismus ist oder seine Ursache, wie die Soziologin Sandra Kostner1 und die Politikerin Sarah Wagenknecht2 behaupten, ist eine Frage, die hier nicht entschieden werden soll. Offensichtlich ist, dass die linke Identitätspolitik der erdrückenden, neoliberalen Hegemonie in ökonomischen Fragen ausweicht und statt materialistischer Ansätze kulturelle Argumentationslinien verfolgt und sich damit in das Feld des rechten Populismus, der ebenfalls auf kultureller Ebene argumentiert, begibt.

Eine neue soziologische Studie lässt die erste Vermutung als ebenso wahrscheinlich erscheinen wie die letzte. In ›Neoliberalism and the Ideological Construction of Equity Beliefs‹3 weisen Shahrzad Goudarzi, Vivienne Badaan und Eric D. Knowles mit Hilfe empirischer Daten nach, dass die ökonomischen Strukturen des Neoliberalismus die persönlichen Wertvorstellungen der Menschen, die in diesen Strukturen leben, fundamental verändert haben. »Using data from more than 160 countries, we uncover evidence that neoliberal economic structures shape equity-based distributive beliefs at the individual level.«4

Mit den equity-based distributive beliefs bezeichnen die Autoren die neoliberale Gerechtigkeitsvorstellung, dass diejenigen, die begabter sind oder mehr leisten, ein höheres Einkommen erhalten sollen. Sie kontrastieren diese Vorstellung mit den equality-based distributive beliefs, nach denen eine Gesellschaft eine möglichst gleichmäßige Verteilung des Reichtums anstreben sollte.

Mit ihrer Studie konnten die Autoren empirisch nachweisen, dass eins der zentralen Bekenntnisse von Margaret Thatcher keine subjektive Wunschvorstellung war, sondern ein wohlüberlegtes und im Rückblick erfolgreiches, politisches Programm darstellte. So sagte die britische Premierministerin 1981 in einem Interview mit der Sunday Times: »Economics are the method; the object is to change the heart and soul.«5 Im Rückblick erweist sich, dass Margret Thatcher den historischen Materialismus besser verstanden hat als die gesamte Linke, die in weiten Teilen einem wirkungslosen Idealismus verfallen ist.

Da die Autoren die Veränderung der Herzen und Seelen über einen Zeitraum von insgesamt 24 Jahren (1995 – 2019) untersuchten und die Spanne in fünf Wellen segmentierten, konnten sie überdies eine weitere wichtige Beobachtung machen. Sie konnten nachweisen, dass eine Zeitspanne von vier Jahren, also die Dauer einer normalen politischen Legislatur, ausreicht, damit das ökonomische System die Wertvorstellungen der Menschen fundamental verändern kann. Andererseits konnten sie belegen, dass vier Jahre nicht ausreichen, dass im Gegenzug die souls das System verändern.6

Damit wurde empirisch nachgewiesen, dass Aktivismus, der in Umkehrung des historischen Materialismus versucht, durch eine Veränderung des Bewusstseins auf das Sein einzuwirken, zum Scheitern verurteilt ist. An der Geschichte der Umweltbewegung lässt sich dieses Scheitern nachvollziehen. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts versuchen Umweltschützer auf das Bewusstsein der Menschen durch Aufklärung, Öffentlichkeit und symbolische Handlungen Einfluss zu nehmen, in der Hoffnung dass sich dadurch ökonomische Veränderungen durchsetzen ließen. Jahrzehntelang lautete die Strategie der Aktivisten, den Einzelnen als Individuum anzusprechen, sein Bewusstsein zu schärfen, um damit seine Handlungen als Verbraucher zu verändern. Über eine Skalierung dieser individuellen Verhaltensänderungen auf die gesamte Gesellschaft sollen sich dann – so der Glaube der idealistischen Aktivisten – die gesamtwirtschaftlichen Veränderungen einstellen, die nötig sind, um Umwelt und Klima vor der völligen Zerstörung zu bewahren. Diese naive Vorstellung ist nahezu allen klimapolitischen Aktivisten, von den Grünen der 70er Jahre bis zu den Aktivistinnen und Aktivisten von Friday For Future und Extinction Rebellion gemeinsam.

Eine Veränderung des ökonomischen Systems wird von vielen Aktivisten oft gar nicht mehr angestrebt. Können sich vor allem jüngere Aktivisten ein Leben außerhalb der neoliberalen Weltordnung gar nicht mehr vorstellen? Aber selbst wenn sie das können, bleibt ihr Protest diesseits ökonomischer Wirkung. Denn diejenigen, die sich eine Veränderung der ökonomischen Verhältnisse wünschen, realisieren diesen Wunsch häufig in alternativen Reformzirkeln. Im besten Fall wirken diese Zirkel als Keimzelle einer antikapitalistischen Wirtschaftsform, im schlimmsten Fall als Sekte zur Beruhigung des eigenen Gewissens.

Wer die Menschen verändern will, muss die Wirtschaft verändern – das ist knapp zusammengefasst die Erkenntnis der Studie. Welche ökonomischen Veränderungen mit welchen Mitteln durchgesetzt werden müssen, um im Sinne sozialer und klimapolitischer Zielsetzungen erfolgreich zu agieren, erläutern die Autoren nicht. Solange linke und klimapolitische Aktivisten aber den historischen Materialismus den neoliberalen Thinktanks überlassen und idealistisch agieren, läuft ihr Aktivismus ins Leere.

Thatcher wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und handelte entsprechend. Die Linke handelt so, als wolle sie das Bewusstsein verändern, um das Sein zu verändern. Das kann nicht funktionieren, und die Linke sollte das wissen. Und weil sie so ständig scheitert, probiert sie immer wieder neue Bewusstseinsformen aus, in der Hoffnung, irgendwann den richtigen Zauberspruch gefunden zu haben, um damit das Sein zu ändern. Und da der wirkungslosen Zaubersprüche viele sind, spaltet sie sich immer weiter auf, bis es keine Linke, sondern bloß noch viele Individuen gibt, die an ihrem individuellen Bewusstsein wie an mittelalterlichen Glaubensartikeln hängen. Das Subjekt kennt kein Objektives mehr, dreht frei und wird von den objektiven wirtschaftlichen Verhältnissen des Neoliberalismus vollkommen bestimmt.


  1. Kostner, Sandra/Almeida, Dimitri/Borchers, Dagmar/Diefenbach, Heike/Grau, Alexander/Hidalgo, Oliver/Lotter, Maria-Sibylla/u. a.: Identitätslinke Läuterungsagenda: Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften. Stuttgart 2019. ↩︎

  2. Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten : Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt / Sahra Wagenknecht. 1. Auflage. Frankfurt 2022. ↩︎

  3. Goudarzi, Shahrzad/Badaan, Vivienne/Knowles, Eric D.: Neoliberalism and the Ideological Construction of Equity Beliefs. In: Perspectives on Psychological Science (2022). Internet: https://doi.org/10.1177/17456916211053311. Zuletzt geprüft am: 16.6.2022. ↩︎

  4. ebd. S. 1 ↩︎

  5. Interview for Sunday Times | Margaret Thatcher Foundation. Internet: https://www.margaretthatcher.org/document/104475. Zuletzt geprüft am: 21.6.2022. ↩︎

  6. Goudarzi, Shahrzad/Badaan, Vivienne/Knowles, Eric D.: Neoliberalism and the Ideological Construction of Equity Beliefs. S. 14 ↩︎