Die Lüge von der Diversity
Der Kapitalismus in seiner jüngsten Erscheinungsform, dem Neoliberalismus, zeigt seine Macht, unsere Sprache zu verfälschen und unsere Begriffe zu entkernen, auf allen Ebenen. So ist der Begriff der Freiheit zu einer Worthülse verkommen, die bloß noch die Freiheit des Konsums in einer auf ihren Verbrauch hin zugerichteten Welt bezeichnet. Das Reden über Freiheit ist ausschließlich in diesem vom Neoliberalismus abgesteckten Feld möglich. Eine andere Sprache als die des Neoliberalismus wird nicht mehr verstanden und verhallt ohne jede Resonanz. Die Totalität des Neoliberalismus erweist sich an der Tatsache, dass nicht nur die sogenannten Eliten diese Sprache sprechen, sondern alle. Sie ist die Sprache, die uns allen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir alle sprechen in einer verfälschten und verfälschenden Sprache. Und wie jede Sprache konstituiert auch die neoliberale Sprache eine Welt: eine falsche Welt.
Was diese Verfälschung bedeutet, lässt sich an dem Begriff ›Diversity‹ zeigen, der seit einigen Jahren in lebhaftem Gebrauch ist. Diversität ist ein biologischer und ein soziologischer Begriff, was ihn in die problematische Tradition von Begriffen stellt, in denen sich biologische und soziologische Konzepte überschneiden.
Die Biodiversität, das biologische Konzept von Diversität, bezeichnet die Vielfalt innerhalb von Arten, die Vielfalt zwischen den Arten und die Vielfalt der Ökosysteme. Da der zerstörerische Eingriff des Menschen in die Ökosysteme nahezu immer mit einer drastischen Verringerung der Biodiversität einhergeht, hat die Umweltpolitik ihren Schutz und ihre Vergrößerung zum Ziel.
Das soziologische Konzept der ›Diversity‹ stammt aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die gegen die Diskriminierung von Schwarzen kämpfte. In ihm werden vor allem Kultur, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung und Weltanschauung betrachtet.
Die Katastrophen, die der Sozialdarwinismus im 20. Jahrhundert ausgelöst hat, sollten uns eine Warnung sein, chimärische Begriffe wie den ›Kampf ums Dasein‹ oder die ›Diversity‹ nur mit äußerster Vorsicht zu benutzen. Leider scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Unter den ›Diversity-Dimensionen‹, die in der Regel betrachtet werden, finden wir mit dem Alter, dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung und den physischen Fähigkeiten vier biologische Komponenten. Lediglich ein Aspekt ist rein soziologisch: Religion und Weltanschauung. Und bei dem sechsten Aspekt, der ethnischen Zugehörigkeit, vermischen sich biologische und soziologische Zusammenhänge.1
Wie die Umweltpolitik, so hat auch die Sozialpolitik – beziehungsweise die verschiedenen Gruppen, die gegen ihre Benachteiligung in unserer Gesellschaft kämpfen – das Ziel, die Diversität zu erhöhen. Das führt zu ganz konkreten Forderungen. Führungspositionen sollen häufiger mit Frauen besetzt werden. Es sollen mehr Frauen in der IT und mehr Männer in der Kindererziehung arbeiten. Es sollen mehr farbige Schauspieler für einen Oskar nominiert werden. Bauliche und organisatorische Maßnahmen sollen die Teilhabe von Menschen am beruflichen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen, die bisher aufgrund von körperlichen Einschränkungen davon ausgeschlossen waren.
Diversität wird im soziologischen Kontext also anders definiert als im biologischen. Während eine hohe Diversität in der Biologie sich dadurch auszeichnet, das starke Differenzen innerhalb einer Art, zwischen verschiedenen Arten und zwischen den Ökosystemen herrschen (sollen), bedeutet Diversität im soziologischen Kontext auch und vor allem, dass die differenzierten Gruppen alle den gleichen Zugriff auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen haben sollen. Dies erhöht zwar die Diversität eines Teilbereichs in der Gesellschaft, zum Beispiel der Vorstandsetage, aber nicht die Diversität der Gesellschaft an sich. Der soziologischen Diversität geht es gar nicht um generelle Vielfalt, sondern um Gleichheit. Lediglich die partikuläre Vielfalt soll erhöht werden, indem die Verteilung von Gruppen, die aufgrund der oben genannten Kriterien differenziert werden, überall der Verteilung in der gesamten Gesellschaft entsprechen. Wenn also 12,6 % aller Oskars an afroamerikanische Schauspieler gehen, hätte das Diversity-Management von Hollywood, wenn es denn eins gäbe, sein Ziel erreicht.
In den letzten zwei Jahren wurde aber nicht einmal ein schwarzer Schauspieler nominiert. Wir sind also von den Ziel der analogen Verteilung noch ein ganzes Stück entfernt. Trotzdem hat man den Eindruck, dass es nie mehr Diversity gab als heute. Familien bestehen zum Beispiel nicht mehr aus Vater, Mutter, Kind und Kegel, sondern aus einem Patchwork von hetero- und homosexuellen Partnern und Ex-Partnern sowie einer munteren Schar von Stiefgeschwistern. Und das alles geht ohne Untergang des Abendlandes über die Bühne. Die Regenbogenfahne ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Kaum jemand will sich noch – Vagina hin, Penis her – in eins der beiden Geschlechter einordnen lassen. Einige Genderisten wollen den Begriff des Geschlechts sogar völlig auflösen, gibt es doch schließlich 8 Milliarden Menschen auf diesem schönen Planeten, die alle ihr ganz individuelles Geschlecht haben sollen.2
In Wirklichkeit aber gab es niemals weniger Diversity als heute. Dass die Identität und Nicht-Identität von Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Hetero- und Homosexuellen dermaßen hysterisch aufgebauscht werden, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Neoliberalismus alle wirklichen Unterschiede zwischen den Menschen nivelliert und die diversen kulturellen Gruppen auf diesem Planeten zu austauschbaren Individuen homogenisiert hat.
Vermutlich kam der soziologische Begriff der ›Diversity‹ genau in dem Moment auf, als der Kapitalismus in seinem Globalisierungsstreben damit begann, die letzten echten Unterschiede zu liquidieren. Diversity betont Unterschiede, wo keine mehr sind. Die Vielfalt, die der Begriff aufgrund seiner Verwandtschaft zu dem biologischen Begriff der Diversity suggeriert, ist völlig oberflächlich und stellt für das neoliberalistische Regime keinerlei Gefahr dar. Denn es geht ja vor allem um die unbeschränkte Teilhabe aller an diesem einheitlichen Lebensstil.
Da die Menschen den Verlust ihrer sozio-ethnischen Vielfalt unbewusst spüren, nehmen sie das preisgünstige Modewort, das ihnen der neoliberalistische Ideenmarkt so dienstbereit liefert, auch dankbar an. Das schlechte Gewissen derjenigen, die den Kapitalismus globalisierten und heute noch von Privilegien profitieren, tut ein Übriges zur Verbreitung dieser wohlfeilen Lüge. Seit einigen Jahren gibt es kaum noch eine Institution, sei es nun ein Unternehmen oder eine Non-Profit-Organisation, die ohne Diversity-Statement in ihren Grundsätzen auskommt. Die Wirtschaft hat das Diversity-Management längst als preisgünstige Human-Ressource-Strategie vereinnahmt. Denn was ist lukrativer für die Wirtschaft als ein Verzicht der Menschen auf echte Vielfalt, wenn man sie mit der oberflächlichen Vielfalt von Hautfarbe, Körperbau, sexueller Orientierung und ethnisch-religiöser Herkunft zufriedenstellen kann?
Die Diversity-Bewegung speist sich aus der Entrüstung über die unterschiedlichen Chancen von im Wesentlichen homogenisierten Individuen. Die Benachteiligung resultiert aus Unterschieden, die lediglich aufgrund der historischen Entwicklung noch existieren, aber keine konstitutive Kraft mehr besitzen. Natürlich gibt es immer noch eine Differenz zwischen der Verteilung von Männern und Frauen in der Gesellschaft einerseits und bestimmten Berufen andererseits. Das sogenannte ›Gender-Gap‹ in Aufsichtsräten und Vorstandsetagen ist unübersehbar. Und man muss nicht bis nach Hollywood reisen, wo zwei Jahre in Folge kein einziger Schwarzer für den Oscar nominiert wurde, um der Tatsache ins Auge zu blicken, dass Weiße im Neoliberalismus immer noch privilegiert sind.
Dass die Diskriminierung dabei auf rein äußerlichen Merkmalen basiert, lässt sie uns als besonders skandalös empfinden. Hier werden Menschen diskriminiert, die sich nur durch Hautfarbe oder Geschlecht voneinander unterscheiden, denn in ihrem Wesen sind sie, was sie selbst einfordern, – austauschbar.
Das heißt aber, dass sich die Institutionen kaum verändern werden, sobald die letzten Diskriminierungen beseitigt worden sind. Hollywood bleibt die gut geölte neoliberalistische Propagandamaschine, auch wenn 12,6 % aller Oscars an afroamerikanische Schauspieler gehen. Und der Kapitalismus bekommt auch kein menschlicheres Antlitz, wenn an den Schalthebeln der Macht geschlechtliche Parität herrscht. Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften sind ebenso imaginär wie die zwischen schwarzen und weißen Schauspielern.
Wir haben es also nicht mit einer wirklich vielfältigen Gesellschaft zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, in der alle die uniformen Funktionen ausüben können, die ihnen der Neoliberalismus anbietet. Damit wird Diversity aber zu bloßer Folklore.
Wesentliche Differenzen zwischen den Menschen gibt es nicht mehr, seit der globalisierte Neoliberalismus die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Vielfalt auf diesem Planeten zerstörte. Was mit dem Imperialismus begann, hat der weltweite Freihandel und die amerikanische Unterhaltungsindustrie vollendet. Die Ethnologie protokolliert den Prozess der Zerstörung, der unumkehrbar erscheint. Jedenfalls wird die Vielfalt der Lebensentwürfe nicht größer, wenn Angehörige indigener Völker im Aufsichtsrat multinationaler Konzerne sitzen, denn das stört die Homogenität des Neoliberalismus in keinster Weise. Kleine Völker dagegen, die ihre eigene Kultur behalten und so wirtschaften wollen wie ihre Vorfahren, werden zu Outlaws erklärt, die Palmölplantagen und damit dem Fortschritt im Wege stehen.
Die Konditionierung durch den Neoliberalismus hat unser Denken in erschreckender Weise uniformiert. Differenz löst Panik aus. Wir ertragen nicht einmal mehr ein Kopftuch! Eine Muslima hat sich in unserer ›offenen‹ Gesellschaft gefälligst an die neoliberalistische Kleiderordnung zu halten, die alles erlaubt, solange es ein modisches Statement und damit affirmativ bleibt. Die Diversity, die wir als Parole stolz vor uns hertragen, ist eine Lüge, ein soziologischer Ponyhof, auf dem die äußerlichen Unterschiede normierter Menschen gerne für einen oberflächlichen Farbenglanz sorgen dürfen, solange ihr Wesen den totalen Herrschaftsanspruch des neoliberalistischen Lebensentwurfs nicht sprengt.
Diversity erreichen wir nicht, indem wir das Andere zuerst zerstören, anschließend die homogenisierten Individuen in die kapitalistische Weltordnung integrieren und das Ganze als Inklusion des Ausgegrenzten feiern. Für mehr Diversity müssen wir die kapitalistische Weltordnung begrenzen, sodass das Andere neben ihr einen Platz zum Atmen findet. Das Andere hört auf, Anderes zu sein, sobald es integriert ist. Es verliert sein Wesen und wird zur folkloristischen Dekoration. Die Ideologie der Diversity ist in Wirklichkeit totale Assimilation. Der Wilde muss zivilisiert, der Islam reformiert werden. Die katholische Kirche soll so werden wie die protestantische. Das traditionelle Wirtschaften indigener Gemeinschaften darf dem globalen Freihandel nicht im Wege stehen. Und in Saudi-Arabien sollen auch die Frauen Auto fahren dürfen.
Diversity ist eine Lüge. Mit ihr suggerieren wir Wertschätzung, wo wir in Wirklichkeit verachten. Mit ihr simulieren wir eine bunte, vielstimmige Harmonie, während wir alle wirklich fremden Töne zum Schweigen bringen. Wenn wir echte Diversity wollen, dürfen wir unsere westliche Lebensweise nicht mehr als das Maß aller Dinge betrachten, das überall hin exportiert werden darf. Wir müssen uns und dem Kapitalismus Grenzen setzen.
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Diversity-Dimensionen | Unternehmensinitiative Charta der Vielfalt. Internet: http://www.charta-der-vielfalt.de/de/diversity/diversity-dimensionen.html. Zuletzt geprüft am: 3.7.2016. ↩︎
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Zur Kritik dieser Sichtweise siehe: Reilly-Cooper, Rebecca: The idea that gender is a spectrum is a new gender prison – Rebecca Reilly-Cooper | Aeon Essays. In: Aeon. Internet: https://aeon.co/essays/the-idea-that-gender-is-a-spectrum-is-a-new-gender-prison. Zuletzt geprüft am: 28.6.2016. ↩︎