Oasen der Differenz in der Wüste der Marginalisierung

Die Soziale Plastik ist kein Begriff der ästhetischen Theorie, sondern der ökonomischen Praxis. Diese ist geprägt von einer Vereinzelung des Einzelnen durch den Kapitalismus in neoliberaler Ausprägung, indem er das Subjekt zum Entrepreneur seiner selbst stilisiert und damit zu einer ökonomischen Ressource erniedrigt, deren Wert sich an ihrer Ausbeutbarkeit bestimmt. Die Freiheit des Subjekts im Kapitalismus ist eine falsche Freiheit; es ist die Freiheit des Konsums, der den unaufhörlich produzierten Warenstrom neutralisieren muss, damit die Illusion aufrecht erhalten bleibt, dass für Bedürfnisse produziert werde. Das Subjekt erhält seinen gesellschaftlichen Wert aus zwei Quellen, dem des Konsums – wer mehr konsumiert, ist mehr wert – und dem Grad seiner Ausbeutbarkeit als Entrepreneur seiner selbst. In beiden Verhältnissen, dem des Konsums und dem der Arbeit, wird der Wert des Subjekts in einem Preis bestimmt, wobei sich die Summen bekanntlich nicht gegenseitig aufheben. Je effizienter aber der Einzelne sich in den ökonomischen Ausbeutungsprozess einfügt, um so besser sind seine Chancen, einen größeren Teil seiner Wertschöpfung zurückzuerhalten. Dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn er einerseits eine knappe und andererseits eine besonders wertschöpfende Ressource darstellt. Die neoliberale Propaganda bezeichnet diese Art von Ressourcen als Leistungsträger. Sie waren auch die ersten, die vom Neoliberalismus marginalisiert wurden, ohne dass ihnen das bewusst wurde. Sie glaubten sich noch in der Mittelschicht zu befinden, während sie doch längst schon in prekären Verhältnissen lebten.

Der Zwang zur Selbstoptimierung des Einzelnen ist der Preis, den er für seine Vereinzelung im Neoliberalismus zahlt. Den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen oder eine höhere Entlohnung kann der Einzelne nur noch gegen sich selbst führen, da er als Einzelner den Kapitalinteressen nichts entgegensetzen kann. Die viel beschworene Solidarität der Arbeiter und Angestellten, mit deren Hilfe der Kampf gegen die ökonomischen Strukturen hätte gerichtet werden können, ist verschwunden. Sie brach in sich zusammen, als die kollektiven Organisationen unter dem Einfluss der Vereinzelung sich auflösten.

Mit der Auflösung kollektiver Strukturen überwand der Neoliberalismus von innen heraus, nicht durch äußeren Druck und Verbote, jeden Widerstand und triumphierte in seiner historischen Ausprägung als ungezügelter Finanzmarkt-Kapitalismus. Mit den kollektiven Strukturen liquidierte der Neoliberalismus aber auch die Verkrustungen der Gesellschaft. Die Homogenisierung der Gesellschaft in einzelne Subjekte, in lauter Entrepreneure ihrer selbst, zerrieb mit der Solidarität auch überkommene Strukturen, die ihre klassenkämpferischen Ursprünge längst verraten hatten. Damit bereitet der Neoliberalismus einerseits erneut dem Faschismus den Weg, der dem marginalisierten Einzelnen nationalistische oder rassistische Parolen als kollektive Surrogate anbietet, andererseits eröffnet er aber auch ein nahezu leeres Spielfeld für neue kollektive Strukturen.

Auf dem vom Neoliberalismus leergefegten Spielfeld tummelt sich eine bunte Mischung der unterschiedlichsten Akteure, von denen die meisten aus offensichtlich eigennützigen Interessen heraus dem vereinzelten Subjekt die abstrusesten Identifikationsangebote machen. Neben Gurus, Sekten und Verschwörungstheoretikern besetzen auch Identitätspolitiker das homogenisierte Spielfeld, das nicht ohne Grund dem Markt der Waren ähnelt. Sie versuchen sich gegenseitig im Grad ihrer Marginalisierung durch eine angebliche Mehrheitsgesellschaft zu überbieten, in der Hoffnung, aus ihm die Kraft für eine gesellschaftliche Emanzipation zu schöpfen. Sie setzen dem Ismus, von dem sie sich unterdrückt fühlen, einen negativen Ismus entgegen, der sie zwar nicht befreit, ihnen aber immerhin die Vereinzelung durch ein kollektives Trugbild erleichtert.

Die Identitätspolitik erweist sich als Spielart der Selbstoptimierung in der homogenisierten Gesellschaft des vereinzelten Subjekts, da sie nicht auf eine Überwindung des Kapitalismus abzielt, sondern bloß den Marginalisierten die gleichen Möglichkeiten zur Selbstoptimierung gewährleisten möchte. Weit davon entfernt, den Neoliberalismus aufzuheben, will die Identitätspolitik die Homogenisierung der Gesellschaft auf die Spitze treiben und den Neoliberalismus darin sogar übertreffen. In einer Gesellschaft aus vereinzelten, empirischen Subjekten, deren Wert allein vom Markt bestimmt wird, bekämpft die Identitätspolitik die letzten Residuen diskriminierender Gewalt, die sich auf diese Wertbildung negativ aufwirken könnte. Sie macht sich dadurch nicht den Neoliberalismus zum Feind, sondern die jeweils die Minorität diskriminierende Majorität. Dies führt zu gesellschaftlichen Spaltungen nicht entlang ökonomischer Verwerfungen, sondern entlang arbiträrer Aspekte wie Geschlecht, Rasse oder sexueller Orientierung. Die Fähigkeiten einer Gesellschaft zur Selbstorganisation werden unterminiert, da sich in jeder größeren Organisation, die partikuläre Interessen überwinden könnte, die arbiträren Forderungen Gehör verschaffen und damit die Organisation spalten. Die jeweils von der Minorität angeklagte Majorität verteidigt sich schließlich gegen diese Angriffe der identitätspolitischen Ismen mit wütendem Populismus. Während man die Identitätspolitik einer heimlichen Komplizenschaft mit den wirtschaftlichen Eliten verdächtigt, übt die marginalisierte Majorität den Schulterschluss mit eben diesen unterdrückenden Eliten. Adorno beschreibt in der Minima Moralia den Melting Pot der USA als eine Einrichtung des losgelassenen Industriekapitalismus; dies gilt für den Neoliberalismus in noch viel stärkerer Intensität. »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch«, schreibt Adorno, »wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen.«1 Diversität aber, so wie sie heute verstanden wird, als Homogenisierung überkommener Strukturen zur effizienteren Integration atomisierter Subjekte in den ökonomischen Prozess, beschwört, wie Adorno sagt, den Martertod, nicht die Demokratie. Denn letztlich wird das Subjekt qualvoll zugrunde gerichtet, wenn das Objekt, das es bestimmt, totalitäre Züge annimmt. Es ist nur zu retten, wenn wir die Differenz retten; und zwar die richtige, die soziale, ökonomische und strukturelle Differenz und nicht die falsche Differenz arbiträrer Aspekte wie Geschlecht, Rasse oder sexuelle Orientierung.

Wenn man die Soziale Plastik als einen Begriff der ökonomischen Praxis begreift, bringt man auf dem Spielfeld, das der Neoliberalismus leer geräumt hat, die Macht der Kreativität in Stellung. Der Neoliberalismus hat uns eine Wüste hinterlassen, die wir durch Oasen der Differenz neu begrünen können. Wir sehen bloß die Wüste vor lauter Waren nicht, die die entfesselten Produktivkräfte in die Märkte pumpen. Alle Menschen könnten ein gutes Leben führen; das stellte Adorno bereits Mitte des letzten Jahrhunderts fest, als er Reflexionen aus dem beschädigten Leben zusammentrug. Was uns fehlt ist der Mut zur Kreativität und vermutlich leider auch die handwerklichen Fertigkeiten. Die Soziale Plastik ist eine Metapher für neue ökonomische Strukturen, die der homogenisierenden Kraft des Neoliberalismus kollektiven Widerstand entgegensetzen. Wir müssen diese kollektiven Strukturen aus dem Repertoire der Vergangenheit aufbauen, ohne durch Restauration von Überkommenem hinter die Errungenschaften des Neoliberalismus zurückzufallen. Darin besteht die Kunst.


  1. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden : Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 1. Auflage. Berlin 2018. S. 116 ↩︎