Putins Jahr

Putin ist gestern seinem großen Ziel, der Zerschlagung einer konkurrierenden, politischen und wirtschaftlichen Macht an seiner Westfront ein großes Stück nähergekommen. Vielleicht geht der Schuss für ihn aber auch nach hinten los, denn Europa bekommt, wenn der ewige Nörgler und Bremser Großbritannien die EU endlich verlässt, die große und vielleicht die letzte Chance zu grundlegenden Reformen.

Doch bis das entschieden ist, kann sich Putin über diesen Coup freuen. 2019 ist das Jahr des russischen Autokraten. Nachdem er die Türkei mit seiner Syrienpolitik faktisch aus der Nato herausgebrochen hat, kann er nun dem Zerfall der EU in aller Ruhe zuschauen, um dann in ein paar Jahren die abtrünnigen Republiken im Westen der ehemaigen Sowjetunion ohne Gegenwehr wieder einzusammeln.

Seine Politik ist einfach zu durchschauen. Sie gleicht der von Bismarck, der aus einem Haufen Flöhe mit rücksichtsloser, aber weitblickender Machtpolitik das Deutsche Reich formte und diese Macht einer degenerierten Dynastie in die Hände gab, die nichts Besseres zu tun hatte, als einen verheerenden Krieg vom Zaun zu brechen.

Die so genannten Putin-Versteher haben den Machthaber in Moskau schon sehr früh richtig eingeschätzt. Sie wiesen immer darauf hin, wie nah der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Machtzentrum in Moskau auf die Pelle gerückt war. Von den Versprechen auf eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Nato und Russland, wie sie in den 90er Jahren gegeben wurden, ist nichts eingelöst worden.

Die westliche Lesart dieser verhängnisvollen Entwicklung ist eine dieser typischen Demokratieerzählung. Man musste die Zusammenarbeit beenden, als Putin anfing, die Menschenrechte mit Füßen zu treten, die Freiheit zu ersticken und die Demokratie von seinem Schreibtisch im Kreml aus zu inszenieren. Nach russischer Lesart verhinderte Putin den Ausverkauf der heimischen Bodenschätze durch emporgekommene Oligarchen an westliche Konzerne, indem er die Rohstoffindustrien faktisch verstaatlichte.

Die russische Lesart hat viel für sich. Die Demokratie in Osteuropa ist vor allem ein Projekt des Neoliberalismus, ein Mittel zur Erschließung neuer Rohstoffquellen und neuer Absatzmärkte. Sie ist für die wirtschaftlichen Eliten im Westen kein Selbstzweck, und war es auch niemals, sondern ein Übel, mit dem man sich dank gut geölter Lobbyverbände bestens arrangiert hat.

Die Entrüstung im Westen über Menschenrechtsverletzungen in Russland ist scheinheilig und hilfslos zugleich. Denn ein politisches System, das blonde Toupets und verzogene Lümmel an die Macht spült, hat jede Legitimität verloren, über andere Systeme zu urteilen. Trump ist kein Betriebsunfall einer intakten Demokratie, den russische Trolls auf Facebook provoziert haben, sondern die Offenbarung dessen, was die USA in Wahrheit sind. Nachdem mit Obama die amerikanische Lüge ihren größten Triumph feierte, kommt mit Trump nun die Wahrheit zum Vorschein.

Die gestrige Wahl hat die Wahrheit Großbritanniens offenbart. Die britische Unterschicht hat einen verzogenen Sohn aus der Eton-Oberschicht gewählt und erhofft sich von ihm die Erlösung. Das ist absurd; doch gegen wen musste Boris Johnson auch antreten? Er ging gegen einen Mann ins Rennen, der in der wichtigsten Frage der Nation gar keinen eigenen Standpunkt vertritt. Corbyn verkörperte damit die monatelange Selbstblockade des britischen Parlaments und damit genau das, was diese Wahlen aus dem Weg schaffen wollten.

Dabei lässt sich Corbyns Haltung durchaus rechtfertigen. Es ist aus Sicht eines Sozialisten nämlich völlig egal, ob die Briten in der EU verbleiben oder nicht, denn beides, EU und Brexit, sind Projekte der kapitalistischen Eliten. Die EU war ein Geschöpf des Neoliberalismus, das die wirtschaftlichen Eliten am Leben hielten, solange es ihnen Vorteile verschaffte. Nun, wo der Neoliberalismus in der Krise steckt, und die EU anfängt, sich als eine wirtschaftspolitische Macht zu verstehen, die den Eliten Widerstände entgegensetzen könnte, probieren diese Alternativen aus. Nichts fürchten sie nämlich mehr als ein politisch vereintes Europa, dass dem Neoliberalismus seine Grenzen aufzeigt.

So gesehen, saß Corbyn in der Zwickmühle. In der EU zu bleiben, hieße, sich dem neoliberalistischen Projekt unterzuordnen und soziale Belange auf nationaler Ebene aufzuschieben, bis sie in Brüssel berücksichtigt werden. Die EU zu verlassen, macht aber das kleine Großbritannien zum Spielball der mächtigen Wirtschaftseliten diesseits und jenseits des Atlantiks.

Corbyn und seine Berater haben leider von Wahlkämpfen keine Ahnung, sonst hätten sie die Steilvorlage von Johnson aufgenommen und einen radikalen Kontrastwahlkampf gefahren. Corbyn hätte nur auf die EU-Karte setzen müssen, um sehr viel besser abzuschneiden – und vielleicht hätte er sogar gewonnen. Aber auch dann hätte Putin sich gefreut, denn die nörgelnden Briten wären in der EU geblieben und hätten sie weiter geschwächt.

Die Niederlage Corbyns ist ein weiteres Menetekel für die Linken. Sie ist folgerichtig, weil die Menschen sich weigern einer Partei zu glauben, die wie alle anderen Parteien auch neoliberale Politik macht. Die Sozialdemokraten auf dem Kontinent und New Labour haben all das vollstreckt, was Margaret Thatcher nicht mehr erledigen konnte.

Organisatorisch gibt die Linke wie eh und je ein jämmerliches Bild ab. Nicht nur ihre Parteien sind zu leeren Hüllen geworden, in die jede beliebige Politik eingewickelt und an den Mann gebracht wird. Seitdem die Unterdrückten zu Entrepreneuren ihrer selbst geworden sind, kennen viele nicht einmal mehr die Namen der Gewerkschaften, die einmal für Arbeitnehmerinteressen einstanden. Die Kirchen, die früher eine eigenständige Sozialpolitik verfolgten, quälen sich mit ihrer Pädophilie herum. So ist niemand mehr da, der den Unterdrückten gegen die wirtschaftlichen Eliten beistehen könnte.

Es ist wie Martin Niemöller es einmal so treffend beschrieb: »Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.« Die Geschichte wiederholt sich; als bittere Farce. Als die Neoliberalisten die Post privatisierten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Postler. Als sie die volkseigenen, landeseigenen und kommunalen Wohnungen verscherbelten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie den Sozialstaat abschafften, habe ich geschwiegen; ich wollte ja nicht als Sozialschmarotzer dastehen. Als ich arbeitslos/krank/alt wurde und Hilfe brauchte, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Die Linke steht vor einem Scherbenhaufen. Sie hat ihr großes politisches Projekt – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und soziale Sicherheit für jeden einzelnen Menschen – längst zugunsten der Mehrgeschlechtertoilette aufgegeben.

Mit dem Neoliberalismus wird vermutlich auch die EU aufgegeben werden. Die wirtschaftlichen Eliten wenden sich anderen Experimenten zu. Mit totalitären Staaten, windigen Eton-Schülern und kleinbürgerlichen Faschisten in Osteuropa lassen sich auch gute Geschäfte machen. Zur Not kann man sie gegeneinander ausspielen.

Die Krise der Demokratie – wenn sie denn jemals nicht krisenhaft war – lässt uns ohne jedes Mittel der Selbstbehauptung zurück. Angesichts der Klimakatastrophen, die über uns hereinbrechen, ist das eine erschreckende Aussicht. Panik wäre hierauf eine natürliche Reaktion. Sie bleibt aber aus, wie bei den Tieren, die zur Schlachtbank geführt werden.