Software hilft uns nicht weiter
Wenn der Plattform-Kapitalismus und die Macht großer IT-Konzerne wie Amazon, Apple, Facebook und Google beklagt werden, fallen Stichworte wie Peer-to-Peer oder Dezentralisierung. Innovative Technologien wie zum Beispiel die Blockchain oder offene Protokolle wie OStatus sollen dezentrale Strukturen schaffen, bei denen private Clients oder verteilte Server ohne zentrale Plattform miteinander kommunizieren. Der Glaube daran, durch eine geeignete Auslegung von Software die Macht monopolistischer Akteure zu brechen, ist groß. In auffallend regelmäßigen Abständen taucht am Horizont der nächste Facebook- oder Twitter-Killer auf und macht seine Runde durch die Hype-Achterbahn des Internets. Der letzte Kandidat hieß Mastodon, ein auf OStatus basierender Twitter-Klon, der sich weitblickend den Namen eines ausgestorbenen Rüsseltiers gab. Ab und zu behauptet sogar jemand, dass das Ende des Kapitalismus und aller Zentralbanken gekommen sei und das Zeitalter der elektronischen Bitcoin-Währung anbräche. Die richtige Software wird es richten. Dabei ist nichts absurder, als die Lösung unserer Probleme ausgerechnet aus dieser Richtung zu erwarten.
Vor allem Software hat in unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft zu einer bisher beispiellosen Beschleunigung aller Entwicklungen geführt. Früher benötigte der Aufbau monopolistischer Strukturen Jahrzehnte, da die Kapitalakkumulation im Vergleich zu heute wie in Zeitlupe verlief. Der Bau von Eisenbahnen und Automobilen, die Erschließung von Rohstoffquellen und die Distribution von Waren erfordert die Mobilisierung ungeheurer Ressourcen an Arbeit und Kapital. Und es dauert oft viele Jahre, bis sich ein Investment amortisiert. Software hat den Prozess der Kapitalakkumulation von den knappen Ressourcen Arbeit und Kapital nahezu vollständig abgekoppelt, sodass Software-Imperien innerhalb weniger Jahre entstehen konnten. Die Grenzen des Wachstums werden bezeichnenderweise immer dann sichtbar, wenn – wie beim Bau von Prozessoren oder Smartphones – genau diese materiellen Ressourcen erforderlich werden. Lieferengpässe bei elektronischen Bauteilen sind trotz hocheffizienter und teilweise vollautomatischer Produktionsprozesse keine Ausnahme. Diese disruptive Beschleunigungskraft möchten viele Kritiker des Kapitalismus nun auch für emanzipative Zwecke nutzen: mit Hilfe dezentral arbeitender Software. Doch Software hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil: sie fördert neoliberale Strukturen, indem sie mitten in der finalen Wachstumskrise des Kapitalismus ein exponentielles Wachstum möglich macht.
Privateigentum ist innovativer
Die neoliberalistische Ideologie, die seit Jahrzehnten an unseren Hochschulen gelehrt wird, behauptet, dass Privateigentum innovativer sei, als Staatseigentum. Mit Hilfe dieses Dogmas wurde die große Privatisierungswelle Ende der 70er Jahre eingeläutet, der in West-Deutschland die Post, die Bahn und zahllose kommunale Betriebe sowie das gesamte volkseigene Vermögen in Ost-Deutschland zum Opfer gefallen sind. Eine Grafik wie die folgende würde in keinem wirtschaftswissenschaftlichen Seminar der Welt Widerspruch hervorrufen.
Allenfalls die Erwähnung und Position der Genossenschaften würde für überraschte Gesichter sorgen. Aber im Großen und Ganzen herrschte bei Wirtschaftswissenschaftlern Einigkeit darüber, dass Staatsbetriebe und öffentlich-rechtliche Anstalten eine geringe Innovationsfähigkeit besitzen und Privatunternehmen eine hohe, wobei Startups als Inkarnation von Innovation gelten. Wenn wir uns an die früheren Staatsbetriebe und die heutigen öffentlich-rechtlichen Anstalten erinnern, so scheint dieses Dogma der Wirklichkeit zu entsprechen. Doch die Sichtweise ist verkürzt. Die Staatsbetriebe in der DDR unterlagen keinem marktwirtschaftlichen Wettbewerb, sodass sie keinen Grund hatten, innovativ zu werden. Außerdem führte der Staatskapitalismus im Arbeiter- und Bauernstaat generell zu einem Versagen wirtschaftlicher Kräfte. In West-Deutschland dagegen funktionierten die Staatsbetriebe Post und Bahn im Rahmen ihrer Aufgaben hervorragend. Und die öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten produzieren bis heute ein umfangreiches und wettbewerbsfähiges Programm.
Die Innovationsfähigkeit von Unternehmen ist nicht allein von der Art der Eigentumsorganisation abhängig. Die Größe spielt eine sehr viel wichtigere Rolle. Dies ist auch der Grund, warum Startups bei ihrem Auftauchen so innovativ erscheinen. Es handelt sich immer um kleine Unternehmen, die von sehr wenigen Personen geführt werden und keine eingeschliffenen Entscheidungsstrukturen besitzen. Generell kann man deshalb sagen, dass Staatsbetriebe und öffentlich-rechtliche Anstalten aufgrund ihrer inneren Entscheidungsstrukturen nicht unbedingt zu den innovativsten Organisationsformen gehören.
Genossenschaften und Privatunternehmen besitzen in der Grafik die gleiche Innovationsfähigkeit. Sie können je nach innerer Struktur und unternehmerischer Grundausrichtung auf der Skala nach oben oder nach unten wandern. So gibt es unter den Privatunternehmen und den Genossenschaften sowohl konservative als auch innovative Vertreter. Die klassischen Einkaufs-Genossenschaften, Wohnungsgenossenschaften oder die Volks- und Raiffeisenbanken zählen zu den konservativen Vertretern der Genossenschaftsbewegung, während kleine Genossenschaften, die ganz bestimmte Ziele verfolgen, sehr innovativ sein können. Ich denke hier zum Beispiel an Energie-Genossenschaften, die dazu beigetragen haben, den erneuerbaren Energien zum Durchbruch zu verhelfen, oder an ethische Genossenschaftsbanken, die eine nach ethischen Gesichtspunkten orientierte Investitionspolitik betreiben. Bei Privatunternehmen ist es ähnlich. Es gibt innovative und weniger innovative Unternehmen. Und Betriebe, die zu konservativ sind, sind in einem innovativen Umfeld schnell gezwungen, ihre Tore zu schließen. Beispiele gibt es genug.
In unserem Zusammenhang besonders interessant sind die so genannten Startups, ein Begriff, der vermutlich erst im Software-Zeitalter aufkam. Wer mit Software Geschäfte macht, reduziert die Abhängigkeit von Kapital und menschlicher Arbeitskraft in erheblichem Maße, während die Umsatzchancen gleich groß bleiben oder sogar wachsen. Software und elektronische Netze haben das Wirtschaftswachstum von den realen Ressourcen abgekoppelt, sodass kleine Software-Startups in wenigen Jahren zu globalen Riesenkonzernen anwachsen, die ihre Märkte monopolartig beherrschen. Die Digitalisierung hat uns die Fähigkeit des Kapitalismus, große Monopole mit einer gigantischen Kapitalakkumulation zu bilden, noch einmal im Zeitraffer vor Augen geführt. Und an dieser Tendenz des Kapitalismus wird keine Software etwas ändern. Die Digitalisierung hat Innovationszyklen beschleunigt und damit Organisationsformen im Wettbewerb begünstigt, die besonders innovativ sind.
Wenn öffentlich-rechtliche Anstalten bei der Digitalisierung keine gute Figur machen, dann vor allem deshalb, weil ihnen politische Fesseln angelegt werden. Die Kastrierung der öffentlich-rechtlichen Websites durch das Depublizierungsgebot ist ein besonders augenfälliges Beispiel. Privatwirtschaftliche Organisationen, die nicht geknebelt und gegängelt werden, profitieren dagegen überproportional von der Digitalisierung.
Gesellschaftlicher Nutzen
Werfen wir nun einen Blick auf den gesellschaftlichen Nutzen der einzelnen Organisationsformen.
Hier schneiden Staatsbetriebe sehr viel besser ab, wenn sie, wie Bahn und Post in der alten Bundesrepublik ihre Aufgaben zur Daseinsfürsorge gut erledigen. Wir besaßen nach dem Krieg in Westdeutschland ein hervorragendes Bahnsystem und mit der Post eine Girobank für den kleinen Mann, die sich problemlos gegen die großen Geschäftsbanken behaupten konnte. Ähnliches kann man von den öffentlich-rechtlichen Anstalten sagen. Ohne sie gäbe es in Deutschland nur noch die von primitivstem Content unterbrochenen Dauerwerbesendungen der privaten Fernsehanstalten.
Privatunternehmen und Startups besitzen nur einen geringen Nutzen für die Allgemeinheit. Die neoliberale Doktrin will uns zwar weismachen, dass freie Märkte die Bedürfnisse der Menschen am besten decken. In Wirklichkeit führt der Neoliberalismus jedoch zu einer Verarmung der Bevölkerung, da das Kapital in den Händen weniger akkumuliert wird. Sozialstaatliche Schutzmaßnahmen, die diese Akkumulation abmildern sollten, hat die deutsche Sozialdemokratie zu Beginn der Jahrhunderts liquidiert. Privatunternehmen machen seitdem nur noch ihre Eigentümer reich. Startups rangieren in diesem Vergleich ganz unten, da sie häufig bloße Spekulationsobjekte für Venture-Kapital-Unternehmen sind, die sich durch sie eine besonders effiziente Kapitalakkumulation versprechen.
Genossenschaften nehmen in diesem Vergleich eine Spitzenposition ein, weil sie häufig in den Bereichen tätig sind, in denen weder staatliche noch privatwirtschaftliche Unternehmen für eine ausreichende Deckung des Bedarfs sorgen. Damit erfüllen sie eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Andererseits stehen aber auch viele Genossenschaften mit staatlichen und privaten Unternehmen im Wettbewerb und müssen daher für ihre Anteilseigner und Kunden, die in dieser Organisationsform miteinander identisch sind, einen besonders attraktiven Nutzen schaffen. Die Genossenschaften erzeugen damit sowohl einen gesellschaftlichen Nutzen, indem sie nicht gedeckte Bedürfnisse befriedigen, als auch einen besonders hohen Nutzen für die Mitglieder der jeweiligen Genossenschaft.
Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass man Genossenschaften im Software-Bereich vermutlich an einer Hand abzählen kann. Die Organisationsform Genossenschaft profitiert von der Digitalisierung bisher kaum. Mir ist zum Beispiel kein einziges genossenschaftliches Startup bekannt.
Einfluss auf die Geschäftspolitik
Wenden wir uns nun einem dritten Punkt zu: der Einflussmöglichkeit der Gesellschaft auf die Geschäftspolitik der jeweiligen Organisationen.
Auf die Geschäftspolitik von Staatsbetrieben und öffentlich-rechtlichen Anstalten hat die Gesellschaft nur einen geringen Einfluss. Die Bevölkerung kann nur indirekt Einfluss nehmen, indem sie die Zusammensetzung der Parlamente in Wahlen bestimmt oder durch ihre Mitgliedschaft in ›gesellschaftlich relevanten‹ Gruppen den Einfluss dieser Gruppen in den Verwaltungsräten von öffentlich-rechtlichen Anstalten stärkt.
Auf Privatunternehmen und Startups kann die Bevölkerung nur über den Umweg der Gesetzgebung Einfluss nehmen, da lediglich das Gesetz dem freien Willen der Kapitaleigner Grenzen setzen kann.
Bei Genossenschaften ist das anders. Hier können diejenigen, die von den Leistungen der Genossenschaften als Kunden profitieren, als Mitglieder auch die Geschäftspolitik der Genossenschaft bestimmen, indem sie Vorstand und Aufsichtsrat wählen und je nach Satzung an wichtigen Entscheidungen direkt beteiligt werden. In großen Genossenschaften ist die Einflussmöglichkeit des Einzelnen naturgemäß geringer, da mehr Mitglieder mitbestimmen, aber im Grundsatz hat jedes Mitglied eine Stimme und ist damit gegenüber den anderen Mitgliedern gleich gestellt.
Lasst uns nicht über Software sondern über Organisation reden!
Der Neoliberalismus wird immer monopolistische Strukturen hervorbringen, ganz egal welche Software angewendet wird. Wer kollektive Strukturen haben möchte, muss diese auch schaffen. Und wenn man genau hinschaut, sind diese in der digitalen Welt gar nicht so selten, wie es zunächst den Anschein hat. Es gibt Konsortien, die Protokolle und Standards festlegen, Foundations nach amerikanischem Recht, die die Markenrechte von freier Software verteidigen und ihre Weiterentwicklung steuern. Und es gibt Vereine, die freie Software fördern oder Infrastruktur für ein freies WLAN-Netz aufbauen. Genossenschaftlich organisierte Software-Unternehmen gibt es jedoch kaum. Hier sorgt der Garagen-Mythos der Software-Milliardäre dafür, dass die Software-Industrie ausschließlich als Spielfeld von Unternehmern gesehen wird. Das nächste große Ding erwarten alle von irgendeinem Startup und nicht von einer Genossenschaft.
Dabei gibt es Reihe von Aufgaben, die Genossenschaften besonders effizient erledigen könnten.
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Hosting sozialer Netzwerke
Gegen die Macht von Unternehmen, die große soziale Netzwerke betreiben, wird oft ein dezentraler Ansatz in Stellung gebracht. Ein Schwarm dezentraler Knoten soll die große monolithische Datenkrake besiegen. Technisch ist das auch kein Problem. Die Technik ist mehr oder weniger einsatzbereit. Den dezentralen Systemen fehlt bisher bloß der große Zulauf. Der Grund dafür könnten strukturelle Defizite sein. Dezentrale Systeme werden zumeist von Einzelpersonen betrieben, die sowohl die Kosten als auch die juristischen Risiken, die sich aus dem Betrieb sozialer Plattformen ergeben, persönlich tragen müssen. Das Wachstum eines einzelnen Knotens ist daher sehr begrenzt. Die Nutzer von dezentralen sozialen Netzwerken müssen entweder dem Betreiber blind vertrauen oder selbst einen Server – mit allen Kosten und Risiken – ins Netz stellen. All diese Umstände erschweren den Aufbau eines kontinuierlichen und skalierbaren Dienstes.
Eine Genossenschaft könnte beide Probleme gleichzeitig lösen. Sie könnte mit entsprechend leistungsfähigen Servern das Rückgrat eines dezentralen sozialen Netzwerks bilden und die vielen kleinen Server-Betreiber von Haftungsfragen entlasten. Gleichzeitig könnten die Mitglieder der Genossenschaft strenge Datenschutzregelungen festlegen, sodass die Privatsphäre der Nutzer umfassend geschützt sind. Über den Aufsichtsrat hätten die Genossen direkten Zugriff auf Geschäftsunterlagen und könnten auch die Serverkonfiguration jederzeit kontrollieren. Eine genossenschaftliche Social-Media-Plattform wäre natürlich nicht mehr kostenlos zu haben, da das Unternehmen kostendeckend arbeiten müsste. Aber es entstünde ein Dienstleister, auf den sich die Nutzer verlassen könnten. Dass dies funktionieren kann bewiesen die DeNIC eG und die Hostsharing eG, die seit Jahrzehnten erfolgreich tätig sind.
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Distribution gemeinfreier Literatur
Um die Pflege der gemeinfreien, deutschen Literatur ist es schlecht bestellt. Populäre Werke werden zwar als E-Book über verschiedene Plattformen online verteilt, aber die Qualität der Ausgaben ist sehr unterschiedlich. Bestenfalls erreichen die E-Books das editorische Niveau der eingescannten Vorlage. Außerdem verläuft die Digitalisierung der deutschen Literatur insgesamt schleppend. Und bisher ist mir kein Anbieter bekannt, der von gemeinfreier Literatur Print-on-Demand-Ausgaben herstellt und preisgünstig verkauft. Im Grunde wäre die Digitalisierung und elektronische Distribution der deutschsprachigen Literatur eine Aufgabe für eine öffentlich-rechtliche Institution. In einer anderen Sudelei habe ich einmal die Gründung einer solchen Literaturanstalt gefordert. Bis es einmal soweit ist, könnte eine Genossenschaft mit entsprechender Auflösungsklausel ein praktikabler Zwischenschritt sein. Liebhaber der deutschen Literatur könnten eine Genossenschaft gründen, die gemeinfreie Literatur in gedruckter und elektronischer Form zugänglich macht. Eine solche Literatur-Genossenschaft wäre auch ein idealer Partner für wissenschaftliche Projekte wie das Deutsche Textarchiv.
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Selfpublishing
Das dritte Beispiel betrifft das Selfpublishing, das zurzeit fest in der Hand von Amazon ist. Selfpublisher, die nicht mehr mit dem US-amerikanischen Konzern auf Gedeih und Verderb zusammenarbeiten möchten, könnten sich in einer Genossenschaft zusammenschließen, die ihre Werke in elektronischer und gedruckter Form vertreibt.