Kein Erdbeben in Haiti oder folge ich herzlosen Menschen?

Das Erdbeben in Haiti hat meine sozialen Netzwerke auf Twitter und Identi.ca nicht erschüttert. Folge ich herzlosen Menschen oder zeigt dies die Stärken und Schwächen der Schwarmkommunikation?

Martin Haase hat in seinem Jahresrückblick1 festgestellt, dass sich 2009 sein Kommunikationsverhalten im Internet grundlegend verändert hat. Anstatt sich mit RSS-Feeds auf dem Laufenden zu halten, verlässt er sich nun auf die 140 Zeichen langen Nachrichten in der Mikro-Blogosphäre von Twitter und Identi.ca. Das funktioniere, wie er schreibt, deutlich besser, weil wichtige Informationen wiederholt ›getickert‹ würden, was das ›Aufmerksamkeitsmanagement‹ erleichtere. Das ist interessant, denn die Macher von Twitter und Identi.ca haben an diese Nutzung ursprünglich gar nicht gedacht. Sie wollten den Menschen eine Möglichkeit geben, anderen mitzuteilen, was sie gerade treiben. Aber solche reinen Statusmeldungen (»What are you doing«) sind nicht das Einzige, was über den Web-2.0-Ticker läuft. Sehr häufig werden Links zu interessanten Artikeln im Netz gepostet, weshalb in den letzten beiden Jahren auch Linkverkürzer wie Pilze aus dem Boden des immer fruchtbaren Internets geschossen sind. Ich selbst habe zwar immer noch eine Reihe von RSS-Feeds abonniert, allerdings lasse ich mich in meinem Leseverhalten ebenfalls zunehmend von den Personen beeinflussen, denen ich auf Twitter oder Identi.ca folge.

Unser Kommunikationsverhalten ähnelt damit mehr und mehr dem eines Schwarms. Man schwimmt als Einzelner in der allgemeinen Welle der Aufmerksamkeit mit und liest, was alle im Schwarm lesen. Das kann, je nachdem wem man folgt, interessante Folgen haben. Folgt man wie ich nur wenigen ausgewählten Personen, kann man vieles übersehen. Ohne die üblichen Nachrichtenmagazine im Internet wüsste ich zum Beispiel bis heute nicht, dass es in Haiti ein schweres Erdbeben gegeben hat, da sich diejenigen, denen ich auf Twitter und Identi.ca folge, nicht für das Erdbeben interessieren. In meinem Netzwerk gab es kein Erdbeben auf Haiti.

Da Haiti bei den »Trending Topics« auf Twitter aber ganz oben steht, muss man sich über eine solche Fragmentierung der Twitter-Gemeinde schon wundern. Mein Netzwerk stellt offensichtlich einen starken Filter dar, durch den nicht alle Ereignisse hindurch dringen. Als im Iran die Opposition auf die Straße ging, war das anders. Damals hat mich mein Microblogging-Netzwerk sehr viel schneller und besser über die Vorfälle im abgeschirmten Mullah-Regime informiert als die klassischen Online- und Offlinemedien. Dass Themen in meinem Netzwerk ausgeblendet bleiben, liegt natürlich an der Art, wie ich es zusammengestellt habe. Neben Menschen, die ich persönlich kenne, folge ich hauptsächlich Personen, die mir im Zuge bestimmter internetbasierter Erregungswellen über den Weg gelaufen sind. Das waren vor allem die Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen, die Zensursula-Kampagne, der bereits erwähnte Aufstand im Iran und die Entwicklung der Piratenpartei.

Ich will nicht darüber spekulieren, warum in meinem Netzwerk das Erdbeben in Haiti nicht einmal ein leises Zittern ausgelöst hat. Ich glaube nicht, dass meine Bekannten allesamt herzlose Menschen sind, denen das Leiden der Bevölkerung in dem zerstörten und bitterarmen Inselstaat egal ist. Aber es handelt sich in erster Linie um eine Naturkatastrophe, nicht um ein von Menschen verursachtes Unglück — und die internationale Hilfe setzte auch sofort und ohne Verzögerung ein. Insofern erzeugt das Erdbeben in meinem Netzwerk, das vorwiegend aus politisch und technisch interessierten Personen besteht, keine virtuellen Schockwellen. Dass ich mich dennoch umfassend über das Beben informiert fühle, verdanke ich ausschließlich den klassischen Nachrichtenmedien im Internet, dem guten alten Radio und dem Fernsehen.

Der Kinderzimmer-Algorithmus

Niemand ist eine Insel, jeder nutzt zahlreiche Informationskanäle zusammen. Daher ist die Frage, welche Folgen es hat, wenn man wirklich nicht mehr aktiv im Internet nach Informationsquellen sucht, um auf dem Laufenden zu bleiben, reichlich hypothetisch. Ich finde es aber dennoch spannend, sie auszuformulieren. Vielleicht hilft dabei zunächst ein Blick zurück. Nach den ersten persönlich zusammengestellten Linklisten und Internetringen, die in den 90er Jahren in der Zeit der ersten Besiedelung des Internets massenweise auftauchten, den Suchmaschinen und Verzeichnissen der Jahrhundertwende sowie der Blogosphäre der Nullerjahre, scheint nun das Microblogging die populärste Methode zur Kommunikationssteuerung im Internet zu sein. Wie die früheren Methoden verspricht es dem Nutzer im unüberschaubaren Informationsraum Internet mehr Relevanz und mehr Überblick. Während Linklisten und Internetringe noch sehr statische Methoden zur Strukturierung des Leseverhaltens waren, wurden die Methoden mit der Zeit dynamischer. Linklisten und Internetringe haben sich schnell als völlig untauglich erwiesen, die Bedürfnisse der Internetsurfer zu befriedigen. Sie verschwanden, als Google mit seinem genialen Algorithmus begann, für ein Jahrzehnt unsere Rezeption in World Wide Web zu prägen. Dieser Algorithmus, der das kleine Startup aus Kalifornien zum größten Internetkonzern der Welt gemacht hat, leitet sich im Prinzip aus einer Urerfahrung des Menschen ab. Wer schon einmal mehrere Kinder in einem mit Spielzeug überfüllten Kinderzimmer beim Spielen beobachtet hat, kennt das Phänomen. Jedes Kind möchte ausgerechnet immer das Spielzeug haben, mit dem gerade ein anderes spielt. Empfehlungsmanagement beginnt in der Kinderstube. Was die Aufmerksamkeit anderer fesselt, könnte auch mich interessieren. Dieser anthropologische Algorithmus, den Google erstmals für sein Ranking benutzte, lag im Prinzip auch schon den Linklisten und Internetringen des frühen Internets zugrunde. Google hat nur das soziale Verhalten der Menschen in Programmcode übersetzt und damit technisiert – ein offensichtlich sehr erfolgreiches Geschäftskonzept. Im Microblogging ist der Algorithmus nun wiederum human implementiert. Was andere gut finden und mir manuell mitteilen, könnte auch mich interessieren. Microblogging re-individualisiert den von Google technisch und damit scheinbar objektiv und unpersönlich implementierten Kinderzimmer-Algorithmus und ermöglicht damit eine Schwarmkommunikation, die besonders schnell und flexibel ist. Man wird nicht nur nahezu in Echtzeit durch sein Netzwerk auf interessante und relevante Informationen hingewiesen, man kann sein Netzwerk auch auf eine Art und Weise neu organisieren, die unseren psychologischen Verhaltensmustern im Alltag entspricht. Wir erweitern oder verändern einfach unseren Bekanntenkreis und schon nehmen wir die Welt anders wahr. Und das hat Konsequenzen!

Alles ist politisch

Dass die gute oder schlechte Gesellschaft, in der wir uns befinden, weitreichende Folgen auf unser Leben bis hin zur Fettleibigkeit haben kann, behauptet nicht nur seit jeher der Volksmund, sondern inzwischen auch die wissenschaftliche Forschung. Was also zunächst mit Twitter wie belangloses Plappern im Cyperspace daherkam, könnte sich als wichtiger Faktor für unser gesellschaftliches Leben erweisen. Man sollte daher — auch das eigene — Microblogging nicht bloß als sinnlosen Zeitvertreib oder vorübergehenden Hype betrachten, für den sich außer das netzaffine Prekariat und trendige Marketingexperten niemand interessieren muss. Jede Kurznachricht hat Folgen und beeinflusst nicht nur die kurzfristige Aufmerksamkeitsbalance im eigenen Netzwerk und darüber hinaus, sondern auch die Stimmung und das Verhalten letztlich der gesamten Gesellschaft. Gerade im oberflächlichen Internet-Zeitalter ist alles, was wir tun und sagen, politisch.

Das Internet wäre jedoch nicht das Eldorado des Computerzeitalters, wenn nicht sofort wieder findige Leute ein Geschäftsmodell darauf aufbauten und beispielsweise Linklisten anböten, die wie Twittertim.es oder Rivva individuell vom eigenen Netzwerk generiert wurden. Diese Versuche mögen zurzeit noch unbeholfen und alles andere als erfolgreich aussehen. Welche Macht jedoch derjenige erlangen kann, der humane Algorithmen oder das Crowdsourcing zu nutzen weiß, zeigt das Beispiel Google.

Dezentrales Microblogging

Soziale Netzwerke privatisieren die Öffentlichkeit, indem sie das Private öffentlich machen.

Wenn man jedoch Microblogging als soziale Kommunikationsform ernst nimmt, sollte man alles daransetzen, die technische Infrastruktur, die es ermöglicht, vor dem Zugriff Einzelner oder des Staates zu schützen. Neben allgemeiner Netzneutralität, universaler Zugänglichkeit und Zensurfreiheit bedeutet dies vor allem, dass wir die Dienste nicht einzelnen Firmen überlassen dürfen, selbst wenn sie auf Open-Source-Software setzen. Alle sozialen Netzwerke, ob sie nun Twitter, Identi.ca, Facebook oder SchülerVZ heißen, privatisieren die Öffentlichkeit, während sie das Private öffentlich machen. Wir brauchen daher dringend eine Technologie, die wie E-Mail auf einem weltweit gültigen Protokoll basiert und vollständig dezentral aufgebaut ist. Erste Ansätze dazu findet man mit den Suchbegriffen »decentralized microblogging« oder »dezentrales microblogging«. Die vielversprechendste Entwicklung, die die Dezentralität aus den Anfängen des Internets mit der Funktionsvielfalt der neuen zentralisierten Webanwendungen verknüpft, kommt ausgerechnet von Google und nennt sich Wave. Kommunikationswelle Wave

Wave nutzt XMPP, ein Protokoll, auf dem auch Instant-Messaging-Dienste wie Jabber und GoogleTalk basieren. Die Entwickler wollten mit Wave die 40 Jahre alte E-Mail noch einmal neu erfinden, was ihnen meines Erachtens auch gelungen ist. Was Wave so interessant macht, sind aber nicht die vielen Nutzungsmöglichkeiten, sondern vor allem die Tatsache, dass es Open-Source-Software ist und später einmal dezentral wie die E-Mail-Dienste funktionieren soll. Jeder Computer im Internet könnte in wenigen Jahren neben dem obligatorischen SMTP-Server über einen Wave-Server verfügen und einen unabhängigen und dezentralen Knoten im weltumspannenden Ozean kommunikativer Wellen darstellen. Millionen Wave-Server würden dezentral miteinander kommunizieren, ohne dass ein Unternehmen oder ein Staat den Dienst kontrolliert.

Obwohl sich Wave noch in einem Teststadium befindet, kann man es unter bestimmten Bedingungen problemlos als Microblogging-System benutzen. Was mich zurzeit noch davon abhält, sind die Unwägbarkeiten, die das Testsystem von Google mit sich bringt. So ist es nicht möglich, Nachrichten zu löschen oder einmal öffentlich zugängliche Nachrichtenstränge den Augen der Öffentlichkeit wieder zu entziehen. Man kann zwar alle eigenen Nachrichten verändern oder unsichtbar machen, das allgegenwärtige Versionsmanagement (Playback genannt) macht sie aber jederzeit wieder im Ursprungszustand sichtbar. Da im Teststadium alle Waves auf Google-Servern gespeichert sind, hat man damit die Verfügungsgewalt über einmal Geschriebenes verloren. Zurzeit gibt es wohl noch nicht einmal die Möglichkeit, seinen Wave-Account separat wieder zu löschen, ohne gleich seinen gesamten Google-Account mit zu entfernen.

Kontrollverlust als Prinzip

Der Verlust von Kontrolle ist jedoch weder ein Problem, das sich allein aus dem Teststadium der Software ergibt, noch ein Problem von Google. Dahinter verbergen sich vielmehr grundlegende Probleme. Auch eine einmal versendete E-Mail kann man nicht zurückholen, obwohl viele das gerne möchten. Wer Mailinglisten verwaltet, wurde sicher schon einmal von einem aktuellen oder ehemaligen Mitglied aufgefordert, nachträglich eine Nachricht aus dem öffentlich zugänglichen Archiv der Liste zu löschen. Im Internet wie in Google Wave gilt soweit es E-Mail und Newsgruppen betrifft der parlamentarische Grundsatz: Es gilt das gesprochene Wort. Gesagt ist gesagt.

Anders ist die Lage bei Websites und Blogs, die man selbst verwaltet. Hier kann man jederzeit zur Schere greifen und nachträglich Änderungen an seinen Texten vornehmen. Und immer wieder kommt es vor, dass man dazu durch die Drohkulisse, die Anwälte mit ihren Abmahnungen aufbauen, wider Willen gezwungen wird. Allerdings untergraben auch hier private und öffentliche Webarchive die scheinbar so umfassend erscheinende Verfügungsgewalt der Blogger und Website-Betreiber. Ob man in Zukunft durch den Betrieb eines eigenen Wave-Servers oder die Einführung eines Rechtemanagements in Wave eine gewisse Verfügungsgewalt über seine eigenen Waves erhält, bleibt abzuwarten. Generell soll jedoch festgehalten werden, dass Wave das Potenzial hat, sich unter anderem auch zu einem sehr leistungsfähigen, dezentralen Microblogging-Dienst zu entwickeln.

Welche Auswirkungen wird das Microblogging nun in den nächsten Jahren auf unser Kommunikationsverhalten haben? Kommunikationsprozesse, das ist sicher nicht zu sehr spekuliert, werden in Zukunft ein ganzes Stück unberechenbarer werden. Medienunternehmen wie beispielsweise der Springer-Konzern werden mit ihren bisherigen Mitteln weniger Einfluss auf die öffentlichen Diskurse nehmen können als noch vor zehn Jahren. Das Gleiche gilt auch für private und öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten. Aber auch Lobbygruppen und Parteien, die sich dieser Medien bisher virtuos bedienten, werden es in Zukunft schwerer haben, der Gesellschaft ein bestimmtes Kommunikationsverhalten vorzuschreiben. Selbstverständlich werden mächtige Interessengruppen ihre Kommunikationsstrategie den neuen Gegebenheiten anpassen. Aber selbst mit Hilfe willfähriger Netizens dürfte ein Kommunikationsschwarm sehr viel unberechenbarer bleiben als der durchschnittliche TV-Konsument.

In ständiger Bewegung

Allerdings wird auch für den Einzelnen die Kommunikation schwieriger. Seit mindestens einem Jahrzehnt reicht es nicht mehr aus, bestimmte Zeitungen zu lesen oder die wenigen kritischen Fernsehmagazine zu verfolgen, um sich ein umfassendes Bild über den Zustand unserer Welt zu verschaffen, wenn dies denn überhaupt jemals ausreichend war. Im Internet müssen alle Informationsquellen aktiv aufgesucht werden. Es unterscheidet sich grundlegend von den Massenmedien des 20. Jahrhunderts, die uns alle Fakten und Meinungen ins Haus spülten, und lässt sich mit der Metapher einer riesengroßen Bibliothek, die jeden Tag neu erschlossen werden will, sehr treffend beschreiben. So entstehen zahllose Schwärme, die ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig durchdringen und sich ständig verändern.

Wer nun die Vorteile der Schwarmkommunikation voll ausnutzen will, muss die Personen in seinem Netzwerk aktiv und mit großer Sorgfalt, aber auch mit Neugier und Veränderungsbereitschaft auswählen. Wir müssen ständig in Bewegung bleiben und in der Summe entstehen so zahllose Schwärme, die ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig durchdringen und sich ständig verändern. Die Zahl der Welten, in denen wir gleichzeitig leben, wird sich dabei vervielfachen. Die Perspektiven auf unser Leben werden facettenreicher. Die ohnehin schon fragmentierte Öffentlichkeit wird noch kleinteiliger. Ob dies dazu führen wird, dass die Mächtigen in dieser Welt zukünftig noch ungestörter Schalten und Walten können, weil die diffusen öffentlichen Diskurse sich gegenseitig neutralisieren, oder ob sie im Schwärmen der Massen ihre Macht nach und nach verlieren werden, muss sich erst noch zeigen. Wir werden nie wie eine dicke Spinne in der Mitte unseres kommunikativen Netzwerks sitzen und über alle wichtigen Vorfälle sofort informiert sein.

Für uns alle sind die neuen Kommunikationsformen tagtäglich eine neue Herausforderung, denn unser Netzwerk ist immer im Werden. Wir können uns nicht mehr auf eine sichere Position im Links-Rechts-Schema des 20 Jahrhunderts zurückziehen, sondern müssen unser schwärmendes Kommunikationsverhalten jeden Tag ein wenig neu erfinden. Unser kommunikatives Netzwerk kann uns nur punktuell und nicht dauerhaft Orientierung bieten. Mit jedem Tag altert und zerfällt es. Jede Kommunikationswelle verändert seine Gestalt. Es ist nie fertig. Wir werden nie wie eine dicke Spinne in der Mitte unseres kommunikativen Netzwerks sitzen und über alle wichtigen Vorfälle sofort informiert sein. Wir müssen immer wieder damit anfangen, es neu zu weben. Wie bequem war es da doch früher, als wir montags von einem Skandal erfuhren und donnerstags die finale politische Analyse frei Haus serviert bekamen.

Literatur

Haase, Martin: Jahresrückblick 2009 « maha’s blog. 2010. Internet: https://www.maha-online.de/blog/2010/01/03/jahresruckblick-2009/. Zuletzt geprüft am: 13.9.2014.

Fußnoten


  1. Haase, Martin: Jahresrückblick 2009 « maha’s blog. 2010. Internet: https://www.maha-online.de/blog/2010/01/03/jahresruckblick-2009/. Zuletzt geprüft am: 13.9.2014. ↩︎