Schlanker Staat

Die Rede vom schlanken Staat verschleiert die Funktion, die er im Kapitalismus hat. Die neoliberale Propaganda, die uns die Ideologie des schlanken Staats einbläuen will, ist nämlich in erster Linie Propaganda und nicht Propagierung eines ideologischen Standpunkts. Das Kapital bedient sich des Staates vielmehr als eines beliebig einsetzbaren Werkzeugs zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Der Einsatz dieses Werkzeugs muss dabei nicht immer offen gewaltsam sein, wie bei der paramilitärischen Niederschlagung eines politischen Streiks oder der Ermordung von Umweltschützern und Vertretern indigener Interessen. Strukturelle Gewalt ohne Tote ist effizienter und desavouiert die Rolle des Staates sehr viel weniger als direkte Gewalt, die jedoch in letzter Konsequenz niemals gescheut wird, wenn etwa Waldbesetzer einem bestens geölten Geschäftsmodell, wie der Verstromung von Braunkohle, Sand ins Getriebe schütten, oder wenn es darum geht, volkswirtschaftlich ruinöse, aber privatwirtschaftlich höchst rentierliche Vorhaben wie den Bau von Atomkraftwerken oder unterirdischen Bahnhöfen durchzusetzen. Meistens wird der Staat dabei spiegelbildlich zur ritualisierten Form des Protests in wohldosierten Gewaltinszenierungen in Stellung gebracht.

Die Ideologie des Kapitalismus besteht darin, beim Einsatz des Staates völlig unideologisch vorzugehen. Die Vertreter des schlanken Staats zögern keine Sekunde, den Staat exzessiv aufzublähen, wenn es rentierlich ist. So gründete man 1990 nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR, die bloß noch das Etikett eines Staates trug, eine ›Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums‹. Die formale Hülle der Treuhandanstalt wurde zwar von der Volkskammer der DDR beschlossen, die Ausgestaltung des Claims übernahm jedoch die westdeutsche Elite. Vermutlich konnten sich diejenigen, die so großes Vertrauen in den schönen Begriff der treuen Hand hatten, kaum vorstellen, dass sie dem Kapital mit der Treuhandanstalt das denkbar effizienteste Werkzeug zur Ausplünderung der an die Bundesrepublik angeschlossenen Kolonie in die gierigen Hände gelegt hatten.

Die Treuhandanstalt erhielt unbeschränkte Verfügungsrechte über alle volkseigenen, und damit in den Augen der westdeutschen Elite herrenlosen Vermögenswerte. Solange sie ihren gesetzlichen Auftrag erfüllte und das Gemeinschaftsvermögen in Privatvermögen veruntreute, konnte die Treuhandanstalt mit den Unternehmen und Grundstücken machen, was sie wollte.

Es wurde keine Sekunde gezögert, den Auftrag zu erfüllen. Die monströse Behörde begann sofort mit der Privatisierung eines Vermögens, das man damals auf rund 600 Mrd. DM schätzte. Die Liquidierung sollte so schnell wie möglich über die Bühne gehen, denn mit der Zeit erwartete man steigenden Widerstand gegen die koloniale Besetzung der DDR. Die ›Treuhänder‹ wurden sogar gesetzlich von jeder Haftung freigestellt. Sie standen über dem Gesetz, mussten sich vor niemandem rechtfertigen und konnten so ihren Auftrag in Rekordzeit erledigen. Der Staat funktionierte reibungslos. Was das veruntreute Gemeinschaftsvermögen der DDR heute wert wäre, kann sich wohl kaum jemand vorstellen.

Wären die volkseigenen Betriebe in selbstverwaltete Betriebe umgewandelt worden, hätten die westdeutschen Eliten mit knapp zehntausend Belegschaften mühsam über die Übernahmekonditionen verhandeln müssen. Die Filetstücke hätten sich womöglich aus eigener Kraft saniert und wären vielleicht bis heute kollektive Musterunternehmen, die den Kapitalismus in Frage stellen. Doch glücklicherweise waren die Betriebe nie in der Hand der Werktätigen, sondern immer staatliches Eigentum. Der Staatssozialismus der DDR spielte also den westdeutschen Eliten in die Hände, da die Arbeiter und Bauern ihre Betriebe niemals als ihre eigenen erlebt hatten. Bestensfalls verstanden sie sich im realexistierenden Sozialismus als Verwalter fremden Eigentums. Es ist daher kein Wunder, dass die Bürger der DDR niemals einen ernsthaften Versuch machten, das ehemals volkseigene Vermögen zu verteidigen. Und wenn man die Gründung der Treuhandanstalt als einen solchen Versuch bezeichnen wollte, so wäre er gründlich schief gegangen.

Der Protest der ehemaligen DDR-Bürger richtete sich ausschließlich gegen den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Es wäre eine soziologisch interessante Fragestellung, einmal zu ergründen, warum die ehemaligen DDR-Bürger lediglich Anspruch auf einen Arbeitsplatz erhoben, niemals aber auf die Produktionsmittel. Der Staatssozialismus hatte jeden Gedanken an genossenschaftliches Gemeineigentum im Keim erstickt.

Wenn Neoliberale einen schlanken Staat fordern, so meinen sie keinesfalls einen schwachen Staat, der ihre ureigenen Interessen nicht mehr schützen kann, sondern einen Staat, der seiner Kontrollapparatur beraubt wird. Der schlanke Staat ist ein Staat, der zwar das Kapital vor den Bürgern, aber nicht die Bürger vor dem Kapital schützen kann. Der schlanke Staat kann nicht genügend Lebensmittelkontrolleure einstellen, um die Konsumenten vor den Wurstfabrikanten zu schützen. Der schlanke Staat kann nicht genügend Finanzbeamte beschäftigen, um auch von Unternehmen Steuern einzutreiben. Er kann kein öffentliches Bildungssystem unterhalten, das auch denjenigen eine gute Ausbildung gewährleistet, die nicht zur Elite gehören. Kurz gesagt, der schlanke Staat kann zwar seine polizeilichen Aufgaben erfüllen, nicht aber seine sozialstaatlichen.

Der Kapitalismus hat keine eigene Staatsideologie, er weiß den bürgerlich-liberalen Parteienstaat ebenso gut für seine Zwecke zu instrumentalisieren wie den faschistischen. Der sozialistische spielt ihm ebenso in die Hände wie der oligarchische. Der Staat ist nicht per se immun dagegen, von der herrschenden Klasse als Staatsapparat instrumentalisiert zu werden. Der Staat verfolgt nicht a priori einen bestimmten Zweck wie andere Organisationen. Sein Wesen ist vielmehr freie Finalität. Hermann Schmitz bestimmt in seiner neophänomenologischen Rechtsphilosophie den Staat »als eine final nicht spezialisierte Organisation, die die Kräfte einer Gruppe von Menschen ganz oder teilweise nebst materiellen Hilfsmitteln beharrlich und geordnet bereithält und außerdem über Regeln der Zwecksetzung verfügt, so dass variable Zwecksetzungen über vorgegebene, mit unabweisbarer Selbstverständlichkeit aufdringliche Bedürfnisse hinaus den Einsatz jenes beharrliche verfügbaren Kräfteschatzes leiten können«.1 Das Gewaltmonopol ist dabei, so Schmitz, notwendige Bedingung von Staatlichkeit.

Wir können daher niemals mit dem Staat rechnen, wenn wir einen Zweck verfolgen wollen, der Bedürfnisse befriedigen soll, die sich nicht mit unabweisbarer Selbstverständlichkeit aufdrängen. Es obliegt denjenigen, die die Regeln der Zwecksetzung ausführen – Schmitz spricht hier sehr erhellend von der Inszenierung einer Institution –, diejenigen Zwecke festzulegen, die ein Staat verfolgt. Und hier stellt sich die Machtfrage. Die wahren Machtverhältnisse im Staat lassen sich an den Zwecken ablesen, die der Staat tatsächlich verfolgt. Wenn aber der Staat seine Zweckbestimmung aufgrund der realen Machtverhältnisse erhält, kann er nicht genutzt werden, um Machtverhältnisse zu verändern. Sollte ein Staat plötzlich Zwecke verfolgen, die anderen Machtverhältnissen entsprechen als denen, die er bisher durch sein Handeln zementierte, so kann man davon ausgehen, dass sich diese bereits verändert haben.

Der Begriff der Zivilgesellschaft, der zurzeit Hochkonjunktur hat, spielt in diesem Zusammenhang ein doppeltes Spiel. Er verschleiert die widerstreitenden Klasseninteressen innerhalb der Gesellschaft, indem er einfach unkritisch ihre Einheit als Zivilgesellschaft unterstellt. Die unkritische Ontologisierung der Zivilgesellschaft ontologisiert ihrerseits Staat und Wirtschaft, da diese angeblich mit der Zivilgesellschaft kontrastieren und damit ein gleiches kategoriales Sein beanspruchen dürfen. Die Ontologisierung des Staates verschleiert aber die Tatsache, dass Staatlichkeit aufgrund ihrer freien Finalisierbarkeit ein beliebig einsetzbares Werkzeug ist. Der Staat reflektiert die realen Machtverhältnisse, aber nur insofern er ihr Werkzeug ist; er ist nicht mit ihnen identisch. Der Marsch durch die Institutionen darf sich nicht darauf beschränken, bestimmte Personen an staatliche Machtpositionen zu bringen. Es geht viel eher darum, machtvolle Institutionen mit klarer Zweckbestimmung zu schaffen, die an den realen Machtverhältnissen tatsächlich etwas ändern, sodass auch das Werkzeug des Staates in die Reichweite der neuen Machthaber kommt und zur Absicherung eingesetzt werden kann.

Eine Institution ist nach Schmitz ein Verhaltensmuster, das durch ein Regelsystem ein Verhalten von Menschen zueinander vorzeichnet. Ein beliebig komplexes Verhalten von Menschen zueinander ist eine Inszenierung einer Institution, wenn es keine ihrer Regeln verletzt und mindestens einen Teil von diesen anwendet. Aus diesem Gedanken der Inszenierung einer Institution entwickelt Schmitz einen spieltheoretischen Begriff von Institutionen und Organisationen, in dem es Mitspieler, Zulassungsbeschränkungen, Spielberechtigte, Kooperationsbeschränkungen, Mitspielberechtigte, Rollenbeschränkungen, Rollenbestimmungen, Zuweisungsregeln, Auftragsregeln und Ermächtigungsregeln gibt. Eine Organisation ist die Spezialisierung einer Institution auf ein Personal. Und um eine Organisation zu kennzeichnen, muss man nach Schmitz ihren nächsten institutionellen Typus angeben und ihr Personal.2

Der soziale Künstler zeichnet sich durch die Kreativität aus, mit der er einerseits für die Inszenierung alter Institutionen neue Besetzungen oder Personale findet und mit der er andererseits Institutionen durch Regeländerungen modifiziert oder auch im Extremfall völlig neue Institutionen schafft. Eine neue soziale Plastik entsteht dann durch die Neuinszenierung einer bestehenden Institution, etwa indem man die Besetzungsregeln ändert. Eine solche Betrachtungsweise von Institutionen und Organisationen eröffnet uns plötzlich einen schier unerschöpflichen kreativen Spielraum.

Was der kreative Reichtum bewirken kann, sei an der Institution der Ehe erklärt. Zunächst haben wir neben die Institution der Ehe mit ihren sehr restriktiven Zulassungsregeln die Institution der eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzt, die eine Variation der Ehe mit anderem Personal darstellte. Nach einigen Jahren haben wir dann beide Institutionen zu einer neuen verschmolzen, die den Kreis zugelassener Mitspieler weniger stark begrenzt als die ursprüngliche Institution. Theoretisch sind weitere Regeländerungen denkbar, die zwar fundamental sein können, nicht aber zu einer völligen Auflösung der Institution der Ehe führen würden. Die wichtigsten Regeln, die auch in unterschiedlichen Kulturkreisen jeweils anders bestimmt werden, betreffen das Mindestalter (Kinderehe) und die Zahl der Mitspielberechtigten (Polygamie).

Das Beispiel verdeutlicht, dass der soziale Künstler seine Kreativität nicht im luftleeren Raum unbeschränkt ausleben kann. Dennoch können Regeländerungen auch innerhalb eines Kulturkreises einschneidend sein. So wurden die Regeln der Institution der parlamentarischen Demokratie in der Vergangenheit grundsätzlich verändert. Ich denke hier an die Erweiterung der Spielberechtigten durch Einführung des Frauenwahlrechts.

Die in letzter Zeit häufig beklagte Dysfunktion demokratischer Organisationen lässt sich vielleicht durch eine Veränderung der Zuweisungs- und Ermächtigungsregeln beheben, indem die Abgeordneten in einer Demokratie nicht mehr durch allgemeine und freie Wahlen, sondern durch das Los bestimmt werden. Die Fridays-for-Future-Bewegung verfolgt eine andere spezifische Regeländerung, indem sie die Ausrufung des Klimanotstandes fordert, durch den ein noch zu bestimmender Kreis von besonderen Mitspielern ein Vetorecht gegen klimaschädliche Gesetze bekäme. Die Besetzungsregel für diesen Klimarat könnte dann beispielsweise den Kreis der Mitspieler auf Klimawissenschaftler beschränken. Letztlich läuft diese Forderung auf eine Institutionalisierung wissenschaftlich fundierter Leitlinienkompetenz hinaus, wodurch neben die drei klassischen Gewalten der Demokratie, wenigstens solange Notstand herrscht, die Wissenschaft als vierte Gewalt installiert würde. Andere Gruppen fordern eine Verschärfung des Kooperationsverbots in der demokratischen Willensbildung, wodurch sie den Lobbyismus kapitalstarker Mitspieler einzudämmen versuchen.

Wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen, sollten wir uns nicht vorschnell auf den vorgeblichen Antagonismus zwischen Staat und Markt festlegen, sondern das gesamte Spielfeld des sozialen Künstlers nutzen, indem wir die spieltheoretischen Ansätze der neuen Phänomenologie nutzen, um heuristisch bessere Institutionen zu schaffen und bestehende durch Regeländerungen unseren Zwecken anzupassen.


  1. Schmitz, Hermann: Der Rechtsraum: praktische Philosophie. Bonn 1973. S. 283 ↩︎

  2. Vgl. ebenda S. 255ff ↩︎