Soziale Plastik – Politik als Kunst

Die *Soziale Plastik* ist älter als die erste Skulptur im engeren künstlerischen Sinne. Denn bevor der Mensch daran ging, der Materie eine Form einzuprägen, modellierte er bereits sein soziales Zusammenleben. Dieser Essay zeigt, in welchen Traditionen Beuys mit seinem ›Erweiterten Kunstbegriff‹ steht und worin das Revolutionäre seines Begriffs besteht.

Die Soziale Plastik ist älter als die erste Skulptur im engeren künstlerischen Sinne. Denn bevor der Mensch daran ging, der Materie eine Form einzuprägen, modellierte er bereits sein soziales Zusammenleben. Die ältesten Kunstwerke der Menschheit, wie der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle am Hohlenstein im Lonetal, verweisen schon auf eine gegliederte Sozialstruktur innerhalb der frühen menschlichen Gemeinschaften. Die Elfenbeinplastik aus der jüngeren Altsteinzeit zeigt vermutlich einen tanzenden Schamanen, der ein Löwenfell übergezogen hat und eine rituelle Handlung vollführt. Dies lässt darauf schließen, dass der Künstler des Löwenmenschen bereits eine Gemeinschaft vor Augen hatte, in der einzelne Personen als Mittler zum Tier- und Geisterreich eine herausgehobene Stellung inne hatten.

Für Jahrtausende vollzogen sich die Prozesse des sozialen Gestaltens ohne theoretische Reflexion, wenn auch nicht ohne Konflikte. Im antiken Griechenland wird die Soziale Plastik dann erstmals Gegenstand philosophischer Betrachtung. In seinen Dialogen ›Politeia‹ und ›Nomoi‹ entwirft Platon zwei teilweise inkompatible Vorstellungen von einem idealen Staat. Der Staat in ›Politeia‹ ist ein totalitärer Kastenstaat1 der aus drei Ständen besteht: den Handwerkern und Bauern, die die physikalische Existenzgrundlage schaffen, den Wächtern, die das Gemeinwesen gegen Feinde verteidigen, und den Philosophen, die mit Vernunft und Weisheit herrschen. Die Dreiteilung des Staates ist dabei eine Analogie zur Dreiteilung der Seele, die nach Platon aus den seelischen Vermögen Begehren, Mut und Vernunft besteht. Damit suggeriert Platon, dass sein Staat organisch aufgebaut sei. Der Staat als Organismus – diese gefährliche Analogie findet sich auch bei Beuys. Und sie zieht sich wie ein roter Faden durch zahlreiche Staatslehren in der Nachfolge Platons. Im Dialog ›Nomoi‹, einem Alterswerk Platons, sollen dagegen Gesetze (griech. Nomoi) das Zusammenleben der Menschen regeln. Die dabei geforderte Gleichheit aller vor dem Gesetz sowie die Möglichkeit der Bürger gegen Entscheidungen der Verwaltung zu klagen, gehören bis heute zu den Grundfesten des Rechtsstaats. Beide Dialoge waren wirkungsmächtig und umstritten.

Vor allem in der Vorstellung des Ständestaates offenbart sich die Soziale Plastik als statisches Gliederungskonzept des sozialen Zusammenlebens. Im Mittelalter bildete sich mit Adel, Klerus und drittem Stand ein Ständewesen heraus, dessen Gültigkeit zwar von der Französischen Revolution erschüttert, aber aufgrund der starken restaurativen Kräfte nicht gänzlich abgeschafft werden konnte. Reste einer ständischen Organisation gibt es, wie das Beispiel Großbritanniens mit seinem House of Lords und dem House of Commons zeigt, bis auf den heutigen Tag.

Das Ständewesen als politisches und gesellschaftliches Formprinzip ist kein europäisches Phänomen. So regelte auch in Indien ein Kastenwesen bis ins Detail das Zusammenleben der Menschen. Heirat, Beruf und politischer Einfluss unterlagen einer strikten ethnisch-sozialen Apartheid.

Während der industriellen Revolution entstand mit dem Klassenbegriff eine neue Vorstellung vom Ständestaat, der nun aber eine dialektische Dynamik aufwies. Im Sozialismus wandelt sich die Vorstellung von einer vollendeten Sozialen Plastik. Ihre Vollendung beruht nicht mehr auf einer naturrechtlich begründeten oder philosophisch idealen Gliederung, sondern ganz im Gegenteil in ihrer Homogenisierung. Die klassenlose Gesellschaft im vollendeten Kommunismus hebt mit den Klassen auch jede Gliederung der Gesellschaft auf. Diese teleologische Geschichtsvorstellung kann dabei als Säkularisierung des christlich-apokalyptischen Denkens, der Auflösung aller Standesunterschiede am Tag des Jüngsten Gerichts, verstanden werden.

Die Soziale Plastik ist vor diesem Hintergrund keine Erfindung von Beuys. Sie ist seit Jahrhunderten das Objekt verschiedener Wissenschaften wie der Geschichte, der Philosophie sowie der Staats- und Soziallehre. Und die Ergebnisse dieser Wissenschaften sind in einer bestimmten Hinsicht eindeutig: eine ungegliederte Gesellschaft hat es nie gegeben. Stets hatten menschliche Gesellschaften eine bestimmte Gestalt, die durch Autopoiese entstanden ist.

Geschichte ist Autopoiese, die fortlaufende und ununterbrochene Gestaltung der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst. Der Reichtum an Formen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden sind, ist groß. Sie werden in der Geschichtsschreibung, der Ethnologie sowie in der Soziologie ausführlich beschrieben. Ebenso vielschichtig sind die Kräfte, die an diesem Werk beteiligt sind. Auch sie sind vielfach als menschliche Tugenden und Untugenden, als psychische Dispositionen, als Produktivkräfte oder als Sachzwänge beschrieben worden. Allen Kräften der Autopoiese ist jedoch gemeinsam, dass sie im sozialen Gestaltungsprozess einen extrinsischen Charakter haben. Die Gesellschaft gestaltet sich zwar selbst, der autopoietische Prozess wird jedoch von blinden Kräften angetrieben, denen es immer um etwas anderes geht. Die Gestaltung der Gesellschaft erscheint in der Geschichte immer als Mittel zu einem Zweck, nie als Selbstzweck. Dies gilt auch dann, wenn der Einzelne den Eindruck hat, vieles in Staat und Gesellschaft existiere nur um seiner selbst willen. Als autopoietische Gestalt ist die Gesellschaft an Selbsterhalt interessiert. Doch Selbsterhalt ist nicht gleichzusetzen mit Selbstzweck. Die Selbstreproduktion ist ein wesentliches Element der Autopoiese. Aber sie erhält immer den Status Quo, wie immer dieser auch aussehen mag. Ein Zweck wird jedoch bewusst gesetzt. Der Zweck des Staates ist aber nie der Staat selbst, sondern stets etwas anderes, wie zum Beispiel die allgemeine Wohlfahrt oder die Befriedung der Gesellschaft durch das Gewaltmonopol des Staates. Das gilt auch für alle sozialen Formen, die vor dem Staat und seinem Begriff entstanden sind. Sie finden ihren Zweck außerhalb ihrer selbst. Das lässt sich am Beispiel des Kriegskönigtums veranschaulichen, dessen Zweck darin besteht, eine Gemeinschaft im Kriegsfall zweckentsprechend zu organisieren. In Friedenszeiten ruht das Amt und die Gemeinschaft wird den Friedenszeiten entsprechend zweckmäßig organisiert. Das Königtum wird nicht als Selbstzweck verstanden, denn sonst hätte es auch in Friedenszeiten die Legitimation zu herrschen. Es ist das Mittel zum Zweck der effizienteren Kriegsführung. Die Autopoiese ihrerseits, die den Status Quo reproduziert, kann mit Zwecken nichts anfangen, sie ist blind für alle Zwecke ist und arbeitet ausschließlich selbstreferenziell am Selbsterhalt. Genau das macht sie oft zum Feind des ursprünglichen Zwecks. Mittel wie das Kriegskönigtum können sich verselbstständigen und zum Selbstzweck entarten. Oder die autopoietisch reproduzierte Gestalt der Gesellschaft wird dem eigentlichen Zweck nicht mehr gerecht und führt die Gesellschaft, die sich nicht mehr anpassen kann, in den Untergang.

Beuys will die blinde Autopoiesis sehend machen, indem er alle Menschen zu Künstlern, zu bewusst agierenden sozialen Gestaltern macht. »Ich will nicht Kunst in die Politik hineintragen, sondern die Politik zur Kunst machen.«2 Es ist offensichtlich, dass Beuys hier nicht die politische Kunst im Sinne zum Beispiel eines Machiavellis ins Auge fasst. Sein totalisierter Kunstbegriff bezieht sich, wie er sagt, »nicht nur auf künstlerisches Gestalten, sondern auch auf soziales Gestalten, oder auf Rechtsgestalten, oder auf Geldgestaltung, oder auch auf landwirtschaftliche Probleme, oder auch auf andere Gestaltungsfragen und Erziehungsfragen. Alle Fragen der Menschen können nur Fragen der Gestaltung sein, und das ist der totalisierte Kunstbegriff. Er bezieht sich auf jedermanns Möglichkeit, prinzipiell ein schöpferisches Wesen zu sein und auf die Fragen des sozialen Ganzen.«3 Beuys formuliert hier jedoch eine Frage und keine Antwort. In einem Interview hat er sie einmal so gestellt: »Wie kann jedermann, d.h. jeder lebende Mensch auf der Erde, ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus werden?«4

Die Antworten, die er selbst gegeben hat, lauten Ausbildung der Kreativität in einem ›Kreativikum‹5 und Volksabstimmung. In seinem pädagogischen Konzept, sagt Beuys, gäbe es »eine Art ›Kreativikum‹ als Basis der Ausbildung anstelle eines Philosophikums oder Physikums. Wie jemand, der ein Philosophikum macht, nicht unbedingt Philosoph wird, sondern Lehrer oder Dramaturg, so soll eine Ausbildung zur eigenen Kreativität nicht zur Folge haben, daß sich jemand unbedingt als Originalfigur auf dem Kunstmarkt durchsetzt, sondern daß er als Biologe oder Landwirt oder was immer Vertrauen in eigene Lösungen hat und sich nicht bloß zum funktionellen Rädchen eines allgemeingültigen Systems machen läßt.«6 In seiner Schule, sagt Beuys, »lernt der Mensch, sich selbst und den Weltinhalt zu bestimmen. Nur aus diesem Punkt heraus geht die Selbstbestimmungskraft, die freie Selbstbestimmung des Menschen hervor, und in sofern sehe ich diesen Kunstbegriff als einen revolutionären an in seiner erstmals totalen Erweiterung, in seiner Totalität. Dann bin ich bereit, ihn zu spezialisieren und zu unterscheiden und zu sagen: Erst in einem bestimmten Punkt der menschlichen Biografie muß ja jeder Mensch zu einem Spezialisten in der arbeitsteiligen Gesellschaft werden. Dann entscheidet sich der eine, Physik zu studieren, der andere wird Malerei studieren, der dritte wird Krankenpfleger usw.«7

Es geht Beuys also darum, den autopoietischen Prozess der Gesellschaftsformung, in dem die Menschen wie Rädchen in einem System funktionieren, bewusst zu bestimmen. Er will, dass die Menschen ihren eigenen Lösungen Vertrauen schenken, neue Ursachen und neue Zwecke setzen. Die Soziale Plastik soll nicht mehr autopoietisch geschaffen werden, sondern durch die bewusste zivilbürgerliche Gestaltung freier Menschen. Für dieses aus dem ›Erweiterten Kunstbegriff‹ entwickelte Erziehungs- und Wirkungsideal findet sich in Deutschland ein prominenter Vorläufer. Ernst Cassirer wies in seinem Aufsatz ›Goethes Pandora‹ darauf hin, dass der späte Goethe sich vom individualistischen Humanismus abwandte und ein ›soziales Ideal‹ anpeilte. »Dem individualistischen Ideal des deutschen Humanismus, das das höchste Ziel des Menschentums in der Ausbildung aller Kräfte des Einzelnen sieht, tritt das soziale Ideal gegenüber: der Forderung einer Totalität der Menschenkräfte, die im Individuum zur freien Entfaltung kommen sollen, stellt sich die Forderung einer umfassenden gemeinsamen Lebensordnung entgegen, die jeden Einzelnen an seinem Teile und innerhalb seiner begrenzten Leistung in Anspruch nimmt.«8

Zum Ausdruck kommt dieser Wandel nach Cassirer am Ende des zweiten Teils des Faust, in den Wanderjahren und nahezu programmatisch im Vorspiel von 1807:

Der du an dem Weberstuhle sitzest,
Unterrichtet, mit behenden Gliedern
Fäden durch die Fäden schlingest, alle
Durch den Tactschlag aneinander drängest,
Du bist Schöpfer, daß die Gottheit lächeln
Deiner Arbeit muß und deinem Fleiße.9

Lange vor Beuys rief Goethe jedem Menschen zu: »Du bist Schöpfer«; wobei man hinzufügen möchte: An deinem Platze! Denn die Vorstellungen des Dichterfürsten von der Gesellschaft waren noch in Traditionen fest gefügt. Goethe war kein Revolutionär. Das Bild des Webers und seines handwerklichen Fleißes erinnert sogar fatal an die idealisierten Schäfer der bukolischen Idyllen, die sich im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten. Das Problem des Wilhelm Meisters und seiner Brüder und Schwestern in den folgenden Bildungsromanen besteht daher vor allem darin, als humanistische Individuen ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Humanistisches Ideal und gesellschaftliche Realität bleiben Gegensätze und ihre von Goethe vorgezeichnete Versöhnung wird zur wesentlichen Problemstellung im Lebenslauf des bürgerlichen Individuums.

Im Unterschied zu Beuys beschränkt sich das Schöpfertum des Webers bei Goethe auf die Webkunst. Goethe bleibt damit im Platonischen Kastenwesen gefangen. Auch dort wird die Tugend eines Handwerkers gelobt, aber es ist eben sein handwerkliches Können, das bei Platon wie bei Goethe Erwähnung findet. Wir haben es mit partikularer Kreativität zu tun, die sich ausschließlich in den Grenzen einer gegliederten, arbeitsteiligen Gesellschaft bewegt. In gewisser Hinsicht bewegt sich auch das Bildungsideal von Beuys in dieser Begrenzung. »Wenn eine Schülerin bei mir einmal ihre Kinder besser erziehen sollte, so ist das für mich mehr, als einen großen Künstler ausgebildet zu haben. (…) Wovon man ausgehen kann, ist die Idee, daß Kunst und aus Kunst gewonnene Erkenntnisse ein rückfließendes Element ins Leben bilden können.«10

Mit diesem Kunstverständnis bliebe Beuys noch im Rahmen bürgerlicher Vorstellungen, in denen der Kunst die Funktion zukommt, den Menschen zu veredeln. Doch die von Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen11 begründete Traditionslinie wurde vom Nationalsozialismus ein für allemal gekappt. Beuys bricht die Grenzen, in denen sich Goethe und Schiller bewegt haben, auf, indem er die Kreativität von ihrer Beschränkung auf partikuläre Bereiche der Gesellschaft befreit und sie zur plastischen Gestaltung des Gesellschaftsganzen heranzieht. Der Weber soll nicht mehr nur durch die Absolvierung eines ›Kreativikums‹ in seinem späteren Beruf Vertrauen in eigene Lösungen entwickeln und er soll auch nicht durch ästhetische Erziehung zu einem moralisch handelnden Individuum veredelt werden, er soll in Volksabstimmungen an der Gestaltung der Gesellschaft ganz direkt und konkret teilhaben. Der Begriff der ›direkten Demokratie‹ ist untrennbar mit dem ›erweiterten Kunstbegriff‹ und der ›Sozialen Plastik‹ verbunden. »Die Bildung des sozialen Organismus bestimmt für Beuys die neue Kunstdisziplin als das plastische Formen an der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Dieser Kunstbegriff kann nur stattfinden, wenn alle gemeinsam sich an diesem plastischen Werk gleichberechtigt beteiligen.«12 Kreativität ist dabei für Beuys die entscheidende Kraft, die allein die Gewalt hat, die Gesellschaft zu verändern. In einem Zeitungsinterview sagt er 1972: »…die Gewalt ist hier die Gewalt der Kreativität, also die Gewalt des Geistes oder die Gewalt der Einsicht. Ich sage, in dem Augenblick, wo die Mehrheit erkannt hat, wo ihre Interessen liegen und wie sie ihre Interessen durchsetzen kann, einfach durch das Prinzip der Volksabstimmung und indem sie sich in diesem Sinne organisiert, in dem Augenblick werden die Verhältnisse sich ändern.«13

Auch wenn Beuys sich als revolutionärer Aktionskünstler inszeniert hat und auch so wahrgenommen wurde – heute würde man vielleicht von einer disruptiven Künstlerpersönlichkeit sprechen –, steht er überraschend breitbeinig auf dem Boden tradierter, bürgerlicher Vorstellungen. Riegel führt diese Zwiespältigkeit im Wesen von Beuys auf den Einfluss Rudolf Steiners zurück, dessen Lebenslauf selbst tiefe Widersprüche aufweist. Doch die Ideen von Goethe und Schiller, um die es hier geht, benötigen gar keine Vermittlung durch Steiner; sie waren damals selbstverständlicher Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons. Allerdings kann man fragen, wie groß der Einfluss Steiners bei der Transformation der Ideen war. Jedenfalls verfolgt Beuys hartnäckig seine pädagogischen Konzepte, in denen er die Vorstellungen Schillers vom bildungsbürgerlichen Staub befreit, um sie im neuen Gewand des ›Erweiterten Kunstbegriffs‹ sowohl innerhalb des akademisch geprägten modernen Kunstbetriebs als auch im politischen Raum zu verankern. Gleichzeitig treibt er Vorstellungen des späten Goethe auf die Spitze, indem er sein Bild vom Menschen als Partikularschöpfer in einen neuen Kapitalbegriff verwandelt: »Kreativität = Volksvermögen. Diese Formel könnte man hier aufstellen. Je höher die Kreativität der Menschen ist, um so höher ist das Volksvermögen, um so höher ist die Fähigkeit, die Dinge so zu regeln, daß sie in höchstmöglichem Maß produktiv und effektiv werden im Sinne aller.«14

Beuys selbst hat diese Traditionslinien nicht betont, dafür war er wohl zu sehr auf Rudolf Steiner fixiert.15 Mit seiner Orientierung an Steiner und die Anthroposophie sabotierte Beuys letztendlich aber auch die Anschlussfähigkeit seiner Ideen. Nach seinem Tod fehlte der Kristallisationspunkt, der die bildungsbürgerlichen Traditionslinien in einer revolutionären Totalität hätte bündeln können. Der Begriff der ›Sozialen Plastik‹ zerfiel in sektorale Ideen. Die Volksabstimmung wird in den Forderungskatalog politischer Bewegungen eingereiht16, während sich die Bürger nach wie vor ihre verfassungsmäßigen Rechte von ihren eigenen Politikern verwehren lassen. Einige wenige Künstler berufen sich auf Beuys’sche Begrifflichkeiten, um ihre künstlerischen Aktionen und Werke zu charakterisieren. Die Ideen von Goethe und Schiller verstauben wieder in den gediegenen Bücherschränken des seit den 1990er Jahren zunehmend marginalisierten Bildungsbürgertums. Der Erweiterte Kunstbegriff wird bestenfalls noch in sehr verengter Form von der Waldorf-Pädagogik weitergeführt. Und der revolutionäre Ruf ›Jeder Mensch ein Künstler‹ wird zur humoristischen Anekdote in der neoliberalistischen Leistungsgesellschaft.

»Ich will nicht Kunst in die Politik hineintragen, sondern die Politik zur Kunst machen.« Dieser Satz von Beuys formuliert auch im 21. Jahrhundert noch eine existenzielle Frage. Wie gelingt es uns, die Gesamtheit menschlicher Fähigkeiten so zur Entfaltung zu bringen, dass das Wohl jedes Einzelnen und das gemeine Wohl davon profitieren? Dass uns dies ganz offensichtlich noch nicht gelungen ist, zeigt uns jeden Tag der Zustand der Welt. Vielleicht hat uns Beuys die Richtung gewiesen, indem der darauf insistierte, dass die menschliche Kreativität unser wahres Kapital ist, dass wir alles tun müssen, es zu fördern und zu mehren, und alles sein lassen müssen, was es mindert. Die offene Gesellschaft, in der die Menschen ihre Fähigkeiten frei entfalten können, ist heute mehr denn je gefährdet: durch Intoleranz, Ausbeutung und Gewalt. Die offene Gesellschaft hat aber auch Feinde in ihren eigenen Reihen: Gleichgültigkeit, Intransparenz und Korruption. Kreativität entfaltet sich nicht im luftleeren Raum, sie muss konkret werden, Hebel ansetzen, Ziele setzen und umsetzen, sie muss sich bewähren. Wir brauchen daher vor allem den Mut, die Kreativität der Menschen in die Politik hinein und sie dort zur Wirkung kommen zu lassen. Unser politisches System ist jedoch auf das Gegenteil hin ausgelegt. Die Kreativität der Menschen wird ausgesperrt. Und es ist schwer, dies zu ändern. Um eine Umkehr glaubwürdig zu machen, ist eine machtvolle Initiation notwendig. Die Volksabstimmung nach Artikel 20 GG wäre ein wirksames Aufbruchssignal: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Wir warten nunmehr seit 66 Jahren auf die Verwirklichung dieses Grundrechts.

Literatur

Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph Beuys. Leben und Werk. Köln 1988.

Beuys, Joseph: Kunst im Wirtschaftsbereich. Hannover 1974.

Broder, Henryk M.: Die Revolution aus dem Filzhut. Wie der Professor Joseph Beuys von mehr Demokratie träumt – und warum sein Traum ein Traum ist. In: Pardon (1972).

Cassirer, Ernst: Idee und Gestalt : Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist / Ernst Cassirer. Darmstadt 1989.

Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke: Vollstandige Ausgabe letzter Hand. 1828.

Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Interview mit Joseph Beuys. In: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984.

———: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. Aufl. Achberg 1984.

Holtfreder, Peter/Ebert, Susanne/König, Manfred/Schweigert, Eberhart: Interview mit Joseph Beuys. In: Kommunikation Nr. 1, Staatliche Kunstakademie Düsseldorf (1973).

Jappe, Georg: Joseph Beuys soll gehen. Soll er? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt M. (1968).

———: Etwas sinnlich Greifbares muß entstehen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt M. (1972).

Kiesewetter, Hubert/Popper, Karl R.: Gesammelte Werke 5: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1: Der Zauber Platons. 8., A. Tübingen 2003.

Riegel, Hans-Peter: Beuys. Die Biographie. Auflage: 1. Berlin 2013.

Schiller, Friedrich von: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. 1. Auflage. Tübingen 1795.

Fußnoten


  1. Kiesewetter, Hubert/Popper, Karl R.: Gesammelte Werke 5: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1: Der Zauber Platons. 8., A. Tübingen 2003. ↩︎

  2. Kandidat für den nächsten Bundestag: Gespräch mit dem Bildhauer Joseph Beuys, Werner Krüger, Kölner Stadt-Anzeiger, 7.8. 1976. Zitiert nach Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph Beuys. Leben und Werk. Köln 1988. S. 335. ↩︎

  3. Ebd., S. 343. ↩︎

  4. Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Interview mit Joseph Beuys. In: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984. S. 19f. ↩︎

  5. Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. Aufl. Achberg 1984. S. 39. ↩︎

  6. Jappe, Georg: Etwas sinnlich Greifbares muß entstehen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt M. (1972). Zitiert nach Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter, Soziale Plastik, S. 39. ↩︎

  7. Holtfreder, Peter/Ebert, Susanne/König, Manfred/u. a.: Interview mit Joseph Beuys. In: Kommunikation Nr. 1, Staatliche Kunstakademie Düsseldorf (1973). Zitiert nach Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin, Joseph Beuys. Leben und Werk, S. 247. ↩︎

  8. Cassirer, Ernst: Idee und Gestalt : Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist / Ernst Cassirer. Darmstadt 1989. S. 27. ↩︎

  9. Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke: Vollstandige Ausgabe letzter Hand. 1828. ↩︎

  10. Jappe, Georg: Joseph Beuys soll gehen. Soll er? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt M. (1968). Zitiert nach Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter, Soziale Plastik, S. 39. ↩︎

  11. Schiller, Friedrich von: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. 1. Auflage. Tübingen 1795. ↩︎

  12. Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin: Joseph Beuys. Leben und Werk., S. 266. ↩︎

  13. Broder, Henryk M.: Die Revolution aus dem Filzhut. Wie der Professor Joseph Beuys von mehr Demokratie träumt – und warum sein Traum ein Traum ist. In: Pardon (1972). Zitiert nach Adriani, Götz/Konnertz, Winfried/Thomas, Karin, Joseph Beuys. Leben und Werk. ↩︎

  14. Beuys, Joseph: Kunst im Wirtschaftsbereich. Hannover 1974. Zitiert nach Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter, Soziale Plastik, S. 59. ↩︎

  15. Wie stark Beuys in dem sektenhaften Denken Steiners verstrickt war, belegt Hans Peter Riegel anschaulich in seiner Beuys-Biografie. Siehe dazu Riegel, Hans-Peter: Beuys. Die Biographie. Auflage: 1. Berlin 2013. ↩︎

  16. Hier ist zum Beispiel der Verein ›Mehr Demokratie‹ zu nennen. ↩︎