Soziale Plastik – die Kunst der Allmende

Joseph Beuys sagte einmal in einem Interview: »Wie kann jedermann, d.h. jeder lebende Mensch auf der Erde, ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus werden?« Beuys selbst hat diese Frage zumeist in abstrakter und wenig konkreter Form beantwortet. Um die Ideen von Beuys aus der musealen Archivierung zu befreien, sind jedoch konkrete Antworten nötig.

Joseph Beuys begriff die Gesellschaft als Soziale Plastik, an deren Gestaltung jeder Mensch beteiligt sein sollte. In seinem Erweiterten Kunstbegriff wird die Kunst als Arbeit an der Sozialen Plastik verstanden. Das häufig missverstandene Wort ›Jeder Mensch ein Künstler‹ bezieht sich explizit auf den Erweiterten Kunstbegriff und die Soziale Plastik. Es besagt, dass jeder Mensch ein Künstler ist, weil er an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirkt. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Menschen ohne Übung und Ausbildung Tätigkeiten ausführen kann, die im überkommenen Kunstbegriff als künstlerische bezeichnet werden. Beuys wollte nicht unsere Vorstellung von Zeichnungen, Gemälden und Plastiken erschüttern, sondern unseren Begriff von der Gesellschaft revolutionieren. Das Missverständnis könnte nicht größer sein. Es geht nicht darum, die Malversuche von Dilettanten zur Kunst zu erheben, sondern um eine neue Perspektive auf die gesellschaftliche Stellung des Individuums. Im Erweiterten Kunstbegriff nimmt der Einzelne gegenüber der Gesellschaft eine ähnliche Position ein wie der Künstler gegenüber seinem Werk. Auf den ersten Blick erscheint dies wie ein ungeheurer Machtzuwachs des Individuums, denn wir sind gewohnt, den Künstler als unumschränkten Herrscher über sein Werk zu sehen. Doch genau dies ist die Sichtweise des Dilettanten. In Wirklichkeit erlebt der Künstler sein Leben als ständiges Ringen gegen die Ohnmacht, denn bevor er zum Herrn über sein Werk wird, muss er zunächst Herr seiner selbst werden und zahlreiche ästhetische Fähigkeiten und handwerkliche Fertigkeiten erlernen. Er muss Hand und Auge schulen, ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Und da kein Künstler aus dem Nichts schafft, sondern mit und gegen die gesamte Kunstgeschichte sowie mit und gegen die Moden und Gepflogenheiten seiner Zeit arbeitet, ist er ungeheuren Zwängen und Konventionen unterworfen, die er nicht einfach wegwischen kann, da sie in ihm und durch ihn auf sein Werk wirken. Alles erscheint determiniert, schon einmal dagewesen. Der künstlerische Schaffensprozess ist eine lange Reihe von Niederlagen und gescheiterten Versuchen. Und dennoch ist der Künstler frei. Er kann seinem Werk gegen alle Konventionen eine individuelle Prägung geben. Und deshalb empfinden wir ein geglücktes Werk als Ausdruck der Freiheit. In jedem großen Werk der Kunst erkennen wir ihre Signatur.

Der Künstler der Sozialen Plastik steht vor ungleich größeren Herausforderungen, denn die Soziale Plastik ist nicht nur ein Gesamtkunstwerk, sie ist ein Gemeinschaftswerk, ein soziales Unterfangen. Was muss geschehen, damit wir in der Sozialen Plastik die Signatur der Freiheit erkennen? Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten muss das Individuum erlernen, das diese Plastik gestalten will? Und wie kann es sich gegen die Geschichte sowie gegen die Moden und Gepflogenheiten seiner Zeit behaupten? Beuys hat den Erweiterten Kunstbegriff in Interviews und Reden immer wieder wortreich thematisiert. Bei den praktischen Konsequenzen blieb er jedoch meist sehr allgemein. Doch es gibt Ausnahmen. In seinen Interviews stechen zwei konkrete Forderungen heraus: die Volksabstimmung und die Freiheit der Lehre. Die Volksabstimmung definiert er als das Werkzeug, mit dem jeder Mensch an der Gestaltung der Gesellschaft auf politischer Ebene mitwirken kann. Aphoristisch könnte man sagen: Was Hammer und Meißel für den Bildhauer, ist die Volksabstimmung für den Bürger. Beuys hat sich entschieden für die Einführung von Volksabstimmungen eingesetzt, spätestens seit 1972, als er mit der ›Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung‹ auf der documenta 5 in Kassel 1972 präsent war. Ebenso konsequent hat er als Hochschulprofessor die Freiheit der Lehre im so genannten ›Akademiestreit‹ gegen staatliche Reglementierung verteidigt. Allerdings war Beuys in dieser Sache Partei, sodass sich persönliche und gesellschaftspolitische Motive überschneiden können und wir zu einer Deutung herausgefordert sind. In seiner Beuys-Biografie zeichnet Hans Peter Riegel den Streit in allen Einzelheiten nach.1 1972 kündigte der damalige Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, fristlos das Dienstverhältnis von Beuys, weil dieser mit einer Sekretariatsbesetzung in der Kunstakademie die Aufnahme von Studenten erzwingen wollte, die aufgrund des Auswahlverfahrens keinen Studienplatz bekommen hatten. Gegen diese Kündigung wehrte sich Beuys in einem Prozess, der durch alle Instanzen ging. Das Bundesarbeitsgericht erklärte schließlich 1980 die Kündigung für rechtswidrig und vermittelte einen Vergleich zwischen Beuys und dem Land Nordrhein-Westfalen. Der Akademiestreit schlug international hohe Wellen, da sich viele bedeutende Künstler mit Beuys solidarisierten; und er führte zur Gründung der ›Freien Internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung‹ auch Free International University (FIU) genannt. Sie war gedacht als ein Ort des Forschens, Arbeitens und Kommunizierens, an dem über Fragen einer sozialen Zukunft nachgedacht wird. Man kann den Versuch, eine eigene Hochschule zu gründen, mit Riegel als Ausdruck eines übersteigerten Sendungsbewusstseins verstehen. Für uns ist es zunächst ein Beleg dafür, dass Beuys der Bildung einen besonders hohen Stellenwert einräumte.

Bildung ist für Beuys der Ausgangspunkt schlechthin für Veränderungsprozesse innerhalb der Gesellschaft, denn die Menschen sind nicht so ohne weiteres in der Lage, kreativ am Gestaltungsprozess der Gesellschaft teilzunehmen. Beuys ist der Meinung, »daß die Menschen ihre Bedürfnisse zwar ahnen, aber sie nicht ausdrücken können.«2 Das hat schwerwiegende Konsequenzen. Die Gestalt der Sozialen Plastik muss sich nach den Bedürfnissen der Menschen richten. Die Bedürfnisse der Menschen sollen in der Sozialen Plastik zum Ausdruck kommen. Sie kann also nur gelingen, wenn die Menschen sich ihrer Bedürfnisse bewusst sind und über die Gestaltungsmittel verfügen, diese auch angemessen zum Ausdruck zu bringen. Wenn die Menschen ihre Bedürfnisse aber nur ahnen und nicht bewusst wahrnehmen, dann können sie sie auch nicht richtig ausdrücken. Und selbst dann, wenn sie ihre Bedürfnisse erkennen würden, müssten sie zusätzlich noch die Fähigkeit erwerben, diese in der Sozialen Skulptur zum Ausdruck zu bringen. »Um mitzubestimmen oder selbst zu bestimmen«, sagt Beuys, »muß ich ja die Fähigkeit haben, etwas zu bestimmen. Diese Fähigkeit, die Dinge der Welt zu bestimmen, zu formen also, die kann man nur da erwerben, wo etwas trainiert, geschult und erworben werden kann.«3 Der Ort dafür sind Schulen und Hochschulen, die aber ein anderes Programm haben müssen, das sich am Akt des Bestimmens orientieren muss. Bestimmung ist ein bewusster Akt, der zwei Seiten hat. Zunächst muss eine Entscheidung über die Form getroffen werden, und anschließend muss die Form ausgeführt werden. Damit ersteres gelingt und eine angemessene Form gewählt wird, benötigen die Menschen das Wissen um ihre Bedürfnisse. Ahnungen sind nicht genug. Sie sind unpräzise, sie können in die Irre führen, sodass ungenaue, wenig wirkungsvolle Formen oder solche gewählt werden, die den Bedürfnissen der Menschen zuwiderlaufen: ein Missstand, den wir tagtäglich in der Politik erleben müssen. Die Ausführung wiederum ist abhängig von den Fähigkeiten der Menschen zum sozialen Ausdruck. Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Um an der Sozialen Plastik zu arbeiten, muss man die dafür notwendigen Werkzeuge beherrschen. Dies setzt wie beim klassischen Künstler eine entsprechende Ausbildung und unermüdliches Training voraus. Der Mensch besitzt zwar Erkenntnisfähigkeit und Kreativität von Geburt an, aber beides muss dennoch ausgebildet werden, um sich voll entfalten zu können. Jedoch hapert es laut Beuys genau an dieser Ausbildung: »Da schaut man auf das ganze kulturelle Leben, auf das Schul- und Hochschulsystem, auf die Informationsebene, also auf alle schulischen Einrichtungen und Medien, und bemerkt, daß sie total in den Händen derjenigen sind, die im Augenblick das System steuern.«4 Das kulturelle Leben im Allgemeinen und die Bildungsinstitutionen und Medien im Besonderen haben die Pflicht, die Menschen in der Fähigkeit des Bestimmens zu unterrichten. Dieser Pflicht können aber wichtige Institutionen des kulturellen Lebens nicht angemessen nachkommen, da sie in den Händen derjenigen liegen, die das System zurzeit steuern. »Es ist das staatlich Politische, Machtmäßige und es sind die Interessen der Wirtschaftsspitzen, die ins kulturelle Leben so hineinwirken, daß die elementarsten Generationspunkte blockiert sind durch Vorstellungen, die eben von oben kommen und die sich dort mehr und mehr etablieren.«5 Beuys vertritt den Standpunkt, dass das Geistesleben vom Prinzip der Freiheit geprägt sein muss und keinerlei Abhängigkeiten von außen vorhanden sein dürfen. Dass Beuys sich in diesem Zusammenhang auf die Dreigliederungstheorie von Rudolf Steiner bezieht, ist vielfach angemerkt worden. Diese anthroposophische Seite des Bildungsbegriffs darf jedoch nicht dazu benutzt werden, dem Beuys’schen Begriff die Relevanz abzusprechen, die er zweifelsohne hat. Dass Intellektualität ohne Freiheit nicht gedacht werden kann, ist unstrittig. Die Freiheit des Denkens ist das Fundament, auf dem unsere Zivilisation aufgebaut ist. Was Beuys von anderen Hochschulprofessoren damals und heute unterscheidet, ist, dass er den Begriff der geistigen Freiheit materialisiert und als Freiheit der kulturellen Institutionen versteht. Er unterscheidet nicht zwischen dem ›Freiheitsraum‹ des rein Intellektuellen, in dem sich Gedanken völlig frei bewegen und miteinander interagieren auf der einen und den Institutionen, in denen diese Gedanken gedacht, gepflegt und unterrichtet werden auf der anderen Seite. Oder anders ausgedrückt: Für ihn fällt die ideale Universität mit der realen zusammen. Für Beuys ist freie Lehre in einer Institution, die von Staat und Wirtschaft abhängig und damit unfrei ist, schlicht und einfach nicht möglich. Die Vehemenz des Akademiestreits, in dem Beuys seine materielle Existenz als Hochschullehrer aufs Spiel gesetzt hat, wird vor diesem Hintergrund verständlicher. Beuys wendet sich gegen ein Bildungssystem, das von Staat und Wirtschaft beherrscht wird. Eine Position, die heute, nach dem neoliberalistischen Putsch der 90er Jahre, immer noch brandaktuell ist. Damit das Bildungswesen seiner Aufgabe gerecht werden könne, so Beuys, müsse es unabhängig von staatlichen Einflüssen werden und sich selbst verwalten. Selbstverwaltung ist für Beuys »das Stichwort für die Neuorganisation der Gesellschaft«.6 Unter Selbstverwaltung im Bildungswesen versteht Beuys eine paritätisch aus Lernenden und Lehrenden besetzte Leitung der jeweiligen Schule oder Hochschule. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass Selbstverwaltung im kulturellen Leben, insbesondere im Bildungsbereich, und die Volksabstimmung im politischen Raum für Beuys die beiden wichtigsten Instrumentarien sind, um jeden Menschen in den Stand zu versetzen, an der Gestaltung der Sozialen Plastik selbstbestimmt mitzuwirken.

Nun stellt sich aber die Frage, ob wir mit einem reformierten Bildungssystem und der Volksabstimmung die beiden einzigen Werkzeuge vor Augen haben, mit dem die Menschen in der Lage sind, im sozialen Gestaltungsprozess ihre Bedürfnisse auszudrücken. Ohne Zweifel würden Volksabstimmungen das Verhältnis der Bürger zu ihrem Gemeinwesen fundamental verändern. Doch ganz offensichtlich ist der Mensch in einem viel umfassenderen Sinne an der Bildung und Ausformung der Gesellschaft beteiligt. Er prägt die Soziale Plastik mit all seinen Lebensäußerungen. Die Menschen schaffen die Soziale Plastik nicht allein dadurch, dass sie in Volksabstimmungen Gesetze verabschieden. Auch die Art, wie sie miteinander umgehen, wie sie interagieren und zusammenarbeiten, prägt die Gesellschaft. Die Soziale Plastik wird erst durch das tägliche Zusammenleben der Menschen zu einem lebendigen Organismus. Beuys hat diesen universalen Ansatz selbst immer wieder betont. So sagt er, dass »das Kapital der Welt nicht das Geld ist, wie wir es verstehen, sondern das Kapital ist die menschliche Fähigkeit zum Schöpferischen, zur Freiheit und Selbstbestimmung an allen Arbeitsplätzen.«7 Dies ist jedoch sehr allgemein und hilft uns nicht wirklich weiter. Die Unbestimmtheit, mit der Beuys über die konkrete Arbeit an der Sozialen Skulptur spricht, darf jedoch nicht als Schwäche des Erweiterten Kunstbegriffs gedeutet werden. Es liegt im Begriff des Schöpferischen, dass es nicht in konkrete Regeln gefasst werden kann. Beuys will den Menschen nicht vorschreiben, wie sie an der Sozialen Plastik zu arbeiten haben. Genauso wenig hat Beuys seinen Schülern auf der Kunstakademie vorgeschrieben, wie sie Kunst zu machen haben. Beuys formuliert keinen kategorischen Imperativ, der als Gestaltungsrichtlinie dienen könnte. Er entwirft keine Ethik, die das Zusammenleben der Menschen durch Gebote oder Verbote regeln will. Seine Ethik wurzelt im Ästhetischen und damit in der Freiheit. Er ist Schiller näher als Kant und dessen Kategorischem Imperativ. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Beuys würde den Kategorischen Imperativ zwar nicht verneinen, aber er würde fragen, woher man denn zuvörderst die Maxime nähme, die man dann a posteriori nach ihrer sittlichen Eignung beurteilen kann. Bevor unsere Ethik ansetzen kann, um ihre Urteile zu fällen, muss doch überhaupt erst einmal etwas da sein, das beurteilt werden kann. Die Schöpfung muss dem Urteil vorausgehen. Das Revolutionäre am Begriff der Sozialen Plastik ist, dass in ihm die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ethisch beurteilt, sondern als kreativer Prozess verstanden wird, dem die Freiheit wesentlich ist. Damit der Mensch fähig wird, seine Bedürfnisse in einer Sozialen Plastik, also in einer organisch gestalteten Gesellschaft, angemessen auszudrücken, muss vor allem seine Kreativität entfaltet werden. Ohne Kreativität entsteht nichts Neues und das Alte wird lediglich reproduziert. Die Freiheit ist im kreativen Prozess notwendige Bedingung. Beuys hat häufig von der Kraft des Chaos gesprochen, die notwendig sei, um Neues zu schaffen. Das Chaos ist jedoch nicht unmittelbar gegeben, es ist nicht, wie die menschlichen Triebe, eine Naturgegebenheit, es ist vielmehr das eine Ende des Gestaltungsprozesses, an dessen anderem Ende die Form steht. Wie beim Schmelzen von Fett muss das Chaos willentlich und mit großem Energieaufwand herbeigeführt werden, um wirken zu können. Der Einfluss Nietzsches ist unverkennbar. »Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.«8

Der Erweiterte Kunstbegriff vollführt eine Kopernikanische Wende. Denn in dem Augenblick, in dem sich der Einzelne als Künstler der Sozialen Plastik begreift, wird das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vertauscht. Es ist nicht mehr die Gesellschaft, die das Individuum prägt, sondern das Individuum wird zum Schöpfer der Gesellschaft. Es besitzt die Freiheit, die Gesellschaft zu formen. Das hat weitreichende Konsequenzen. Der Einzelne bekommt einen schöpferischen Zugriff auf die Gesellschaft, wenn er seine kreative Freiheit als Gestalter der Sozialen Plastik entdeckt. Seine Stellung gegenüber der Gesellschaft wird grundsätzlich verändert.

Vor dem Erweiterten Kunstbegriff erlebte sich das Individuum als abhängigen Teil der Gesellschaft, es war den Kräften und den Strukturen der Gesellschaft ausgeliefert. Freiheit konnte das Individuum nur innerhalb von Freiräumen finden, die ihm die Gesellschaft einräumte. Einer dieser Freiräume war die Kunst, die durch den reduzierten Kunstbegriff fein säuberlich von der übrigen Gesellschaft getrennt wurde und dem Individuum die Möglichkeit gab, sich zu ›verwirklichen‹. Diese Vorstellung von einer freien Kunst in einer unfreien Gesellschaft ist in der Renaissance entstanden und hat sich seitdem immer weiter differenziert. Die Freiheit im Schonraum der Künste führte zu einem ungeheuren Formenreichtum, den wir heute noch in den Museen und Galerien bewundern können. In der Kunst lebte das von der Gesellschaft geknechtete Individuum seine Freiheit aus. Es entstand ein Kunstideal, das sich den Zwängen der Gesellschaft mehr und mehr entzog. Im Geniekult erlebte diese Entwicklung einen ersten Höhepunkt. Das Genie ist aller gesellschaftlicher Fesseln los. Seine Schöpfungen sind frei von allen Bindungen an die Gesellschaft. Die Natur selbst, die Antagonistin der Gesellschaft, wurde zur Richtschnur erkoren. Das Genie blieb nicht lang allein, zu verführerisch war die Welt der Freiheit, in der es sich verwirklichen konnte. Die Bohème gesellte sich hinzu und erklärte sich unabhängig von der spießbürgerlichen, guten Gesellschaft. Die Moderne Kunst verlor den Kontakt zur bürgerlichen Gesellschaft. Künstler und Bürger fanden bloß noch auf dem Kunstmarkt zusammen, auf dem die Werke einzelner Künstler zu Spekulationsobjekten wurden. Die Preise interessierten schließlich mehr als der Gehalt eines Werkes. Heute im Zeitalter des Neoliberalismus ist das künstlerische Individuum und seine Kunst vollkommen marginalisiert. Die Kunst lebt sicher verschlossen in einer Zyste inmitten der unfreien Gesellschaft. Alle funktionalen Verbindungen zwischen Künstler und Gesellschaft, bis auf den Kunstmarkt mit seiner Vermarktungsfunktion und den verkitschten Rudimenten bürgerlicher Erbauungskultur, sind gekappt. Kunst wurde zur Unterhaltung und dient selbst in ihren radikalsten und antibürgerlichsten Formen bloß noch der Zerstreuung politisch machtloser Verbraucher. Deshalb hat Kunst, wie Beuys es ausdrückt, »keinen Anlass« mehr. Nur vom Erweiterten Kunstbegriff erwächst ihr ein neuer Sinn. »Ohne diese Erweiterung des Kunstbegriffes mit dieser Perspektive werden Menschen keinen Grund mehr haben, Bilder zu malen. Dann läuft sich das tot. Das ist das Problem. (…) die Kunst hat keinen Anlass. Diejenigen, die das willensmäßig doch noch machen wollen aus irgend einem Bedürfnis heraus, die kommen doch letztendlich zu modischen Effekten. Das wechselt im Sinne der Mode.«9

Der Erweiterte Kunstbegriff macht dagegen das Individuum zum Schöpfer der Gesellschaft und verweist ihn gleichzeitig an seine Freiheit und seine Kreativität. Das Individuum im Erweiterten Kunstbegriff ist zur aktiven Gestaltung der Gesellschaft aufgerufen und zwar nicht dadurch, dass es innerhalb der Gesellschaft eine Funktion übernimmt, sich gesetzestreu verhält und seinen bürgerlichen Pflichten nachkommt. Im Gegenteil! Jeder Mensch soll als freier Künstler der Gesellschaft gegenübertreten und sie formen. Aufgrund der Totalität der Gesellschaft muss sich auch der soziale Künstler totalitär verhalten. Da die Gesellschaft der alles umfassende und alles beeinflussende Organismus ist, muss der soziale Künstler in allem, was er tut, bewusst zur Formung der Gesellschaft beitragen. Der Erweiterte Kunstbegriff ist ein modifizierter Kategorischer Imperativ: Schöpfe nur diejenigen Formen, von denen du willst, dass sie Teil der Sozialen Plastik werden. Ästhetisch formuliert: Handle nur so, dass die Soziale Skulptur schöner wird. Oder psychologisch mit Gandhi gesprochen: »Be the change that you wish to see in the world.« Jeder bewusst vollzogene Akt eines Menschen ist ein Pinselstrich, der die Soziale Plastik verändert. Die Botschaft von Beuys lautet: Wir sind der Gesellschaft nicht ausgeliefert, sie ist unser Geschöpf. Wir können ihr morgen eine andere Gestalt geben.

Es liegt hier nahe, den Erweiterten Kunstbegriff metaphorisch zu verstehen, denn ein wörtliches Verständnis wirft viele Fragen auf. Ist es überhaupt vorstellbar, dass das Individuum seine soziale Kreativität allseitig entwickelt, die Beherrschung der Werkzeuge der sozialen Gestaltung einstudiert und seine künstlerische Freiheit nutzt, um die Gesellschaft zu formen? Wird hier nicht von allen Menschen etwas gefordert, das wir bisher wegen seiner Seltenheit als künstlerische Ausnahmeerscheinung verehrten? Wird die Soziale Plastik überhaupt von Einzelnen in gemeinsamer Arbeit geschaffen oder braucht es dafür den kollektiven Künstler? Und wie sollen wir uns den kollektiven Schaffensprozess vorstellen? Wie ringt ein kollektiver Schöpfer mit den determinierenden Mächten, wie erkennt er seine Bedürfnisse und wie realisiert er seine Freiheit? Wie können Kreativität und Freiheit, die wir als Kräfte im Individuum wahrnehmen, gesellschaftlich und kollektiv verstanden werden? Ist der Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft nicht unüberbrückbar, sodass wir ihn zwar mit Gesetzen leidlich ausgleichen können, ihn aber niemals in einem kreativen Prozess überwinden, sodass beide – Individuum und Gesellschaft – im sozialen Kollektivkünstler aufgehen? Diese fundamentalen Fragen sind ebenso ungelöst wie die drängenden Fragen der Zeit. Hat die Soziale Plastik im Zeitalter des Neoliberalismus noch genügend Substanz, um überhaupt geformt werden zu können? Und worin besteht die Substanz der Sozialen Plastik?

Wir sind verführt zu sagen, dass die Substanz der Sozialen Skulptur die Gesellschaft sei, doch diese Definition ist unzureichend. Wenn man die Gesellschaft nicht nur metaphorisch als Soziale Plastik versteht, dann müssen wir in der Lage sein, Form und Inhalt, Gestaltung und Substanz zu unterscheiden.

Wenn wir nach dem Material der Sozialen Plastik fragen, fällt uns zunächst der einzelne Mensch ein. Wenn der Einzelne das Material ist, dann bilden alle Menschen zusammen, organisiert durch Sitten, Gebräuche, Vernunft und Gesetze, die Gesellschaft. Doch so einfach ist das nicht. Die Soziologie hat einen sehr differenzierten Begriff von Gesellschaft. Die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt immer nur »eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste und abgegrenzte Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde (Akteure) miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren«10 Wir haben es daher mit vielen Sozialen Plastiken zu tun. Diese Tatsache nutzen Aktionskünstler, indem sie durch Kunstwerke, die erst durch die Beteiligung des Publikums entstehen, Soziale Plastiken auf Zeit schaffen. Es gibt jedoch Einwände gegen die Vorstellung, dass der Einzelne das Material der Sozialen Plastik ist. Eine Gesellschaft besteht niemals nur aus Individuen. Sie baut von Anfang an mit komplexeren Bausteinen wie zum Beispiel der Familie. Atomistische Vorstellungen von der Gesellschaft sind relativ jung und prägen vor allem die Politik des Neoliberalismus. Das atomistische, bindungslose Individuum wird im Neoliberalismus zur Verfügungsmasse der Konzerne. Es besitzt zwar virtuell die vollkommene Freiheit der unbeschränkten Selbstbestimmung, ist aber in Wirklichkeit ein Nichts, das bloß in den Büchern der Konzerne gezählt wird.11 Der atomistische Einzelne ist Teil der Masse, die wir im Sinne der Sozialen Plastik nicht nur als ungestaltet, sondern vermutlich auch als ungestaltbar bezeichnen müssen. Jeder Mensch ist zwar an der Gestaltung der Sozialen Plastik beteiligt, aber er scheint nicht als Einzelner ihr Material zu bilden.

Die Frage nach dem Material der Sozialen Plastik wirft einige Schwierigkeiten auf. Versuchen wir es auf einem anderen Wege und untersuchen wir zunächst ihren Gehalt. Der scheint von Anfang an recht genau bestimmt zu sein. Der Gehalt der Sozialen Plastik, also das, was sie zum Ausdruck bringt, sind die Bedürfnisse der Menschen. Das menschliche Bedürfnis nach Nahrung und Schutz vor Feinden wurde häufig als Ausgangspunkt der Staatenbildung beschrieben. Dies ist jedoch eine atomistische Sichtweise, die vom Individuum ausgeht und mit historischen und anthropologischen Befunden in Konflikt geraten dürfte. Beobachtungen im Tierreich legen vielmehr den Schluss nahe, dass der Mensch bereits ein soziales, in Gruppen organisiertes Wesen war, bevor er Mensch wurde. Der Ansatz, dass die Bedürfnisse des Individuums, wie auch immer man sie im Einzelnen definiert, in der Sozialen Plastik ausgedrückt werden sollen, ist problematisch. Er krankt an dem Vorurteil, das unsere westliche, individualistische Sichtweise auf die Gesellschaft die einzig richtige sei. Allerdings können wir uns nicht der offensichtlichen Tatsache entziehen, dass die Bedürfnisse des Individuums nach Schutz und Nahrung in einer wohl organisierten Gesellschaft recht gut befriedigt werden. Dieser Zusammenhang ist so augenfällig, dass wir von Anarchie, Chaos oder einem gescheiterten Staat sprechen, wenn in einer Weltgegend alle gesellschaftlichen Bande zerreißen und ein Zustand ausbricht, der mit dem Hobbes’schen Krieg aller gegen alle recht gut umschrieben ist. Eine gut organisierte Gesellschaft wird aber nicht nur die Bedürfnisse von einigen wenigen Individuen befriedigen, sondern die von allen. Der Sinn von Gesellschaften liegt im Wohlstand aller Menschen, die sie bilden. Eine gut organisierte Gesellschaft sorgt sich um das Gemeinwohl und gibt den Einzelnen die Möglichkeit, sich um ihr individuelles Wohl zu kümmern. Der Gehalt der Sozialen Plastik wäre damit bestimmt: es ist das Gemeinwohl, die Allmende.

Es geht in der Sozialen Plastik um den Ausdruck der Allmende, denn die Allmende ist das Bedürfnis aller Menschen. Sie ist das allen Menschen gemeine Interesse, in ihr vereinigen sich individuelle und kollektive Bedürfnisse, denn sie befriedigt in letzter Konsequenz auch alle individuellen Bedürfnisse des Menschen. Sie gehört allen. Das Gemeingut, das gut für alle und nicht nur für Einzelne ist, soll in der Sozialen Plastik zum Ausdruck kommen. Das heißt aber nichts anderes, als dass es wahrhaft verwirklicht werden soll, denn die Soziale Plastik ist kein Symbol der Gesellschaft, sondern sie selbst. Wenn aber Zeichen und Inhalt zusammenfallen, dann fallen auch Substanz und Gehalt in eins. Die Allmende ist nicht nur der Gehalt der Sozialen Plastik, sie ist auch ihre Substanz. Jeder Mensch ist ein Künstler, insofern er zur Formung der Allmende beiträgt.

Der Kapitalismus hat die Allmende jedoch nahezu vollständig zerstört. Der soziale Künstler muss sie aus Trümmern wieder aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die Geburt des reduzierten Kunstbegriffs in der Renaissance mit der Entstehung des Kapitalismus zusammenfiel. Die Feinde der Allmende sind überall und sie verhalten sich barbarischer als islamistische Terrorbanden, die antike Statuen zerstören. Die Arbeit an der Sozialen Plastik ist ein Kampf um die Allmende. Mit ihr müssen wir die Arbeit an der Sozialen Plastik beginnen, sie ist Substanz und Gehalt, Ziel und Zweck der Sozialen Plastik. Im Begriff der Allmende verbindet sich gesellschaftliche Freiheit des sozialen Künstlers mit den determinierenden Kräften der Geschichte, wie ich in »Demeter und die Allmende des Seins« dargelegt habe.12 In der Allmende begegnen sich Tradition und Freiheit. Die Allmende ist die erste Substanz, die materia prima, aus der wir die Soziale Plastik erschaffen können. Wer an der Sozialen Plastik arbeiten möchte, muss die Allmende gegen die neoliberalistischen Barbaren verteidigen. Wenn wir die Allmende stärken und ihren Einfluss wieder ausweiten, werden wir eine Renaissance der sozialen Künste erleben.

Literatur

7000 Eichen, Joseph Beuys. Hrsg. v. Joseph Beuys/ Fernando Groener/ Rose-Maria Kandler. Köln 1987.

Gesellschaft (Soziologie). In: Wikipedia. 2015. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gesellschaft_(Soziologie)&oldid=139065442. Zuletzt geprüft am: 7.4.2015.

Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Interview mit Joseph Beuys. In: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984.

Hasecke, Jan Ulrich: Demeter und die Allmende des Seins: Spekulativer Essay wider die Ahnenlosigkeit und die Anmaßung des Eigentums. Auflage:

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. 1. Auflage. Chemnitz 1883.

Riegel, Hans-Peter: Beuys. Die Biographie. Auflage: 1. Berlin 2013.

Fußnoten


  1. Riegel, Hans-Peter: Beuys. Die Biographie. Auflage: 1. Berlin 2013. ↩︎

  2. Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Interview mit Joseph Beuys. In: Soziale Plastik: Materialien zu Joseph Beuys. 3. erweiterte und ergänzte Auflage. Achberg 1984. S. 11. ↩︎

  3. Ebd., S. 10. ↩︎

  4. Ebd., S. 10. ↩︎

  5. Ebd., S. 10. ↩︎

  6. Ebd., S. 11. ↩︎

  7. 7000 Eichen, Joseph Beuys. Hrsg. v. Joseph Beuys/ Fernando Groener/ Rose-Maria Kandler. Köln 1987. S. 19. ↩︎

  8. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. 1. Auflage. Chemnitz 1883. ↩︎

  9. Harlan, Volker/Rappmann, Rainer/Schata, Peter: Interview mit Joseph Beuys, S. 21. ↩︎

  10. Gesellschaft (Soziologie). In: Wikipedia. 2015. Internet: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gesellschaft_(Soziologie)&oldid=139065442. Zuletzt geprüft am: 7.4.2015. ↩︎

  11. Provokativ könnte man sagen, dass Emanzipationsbewegungen die schöne Schauseite der neoliberalistischen Ideologie sind, deren hässliche Rückseite die Auslieferung der Menschen an die Konzerne ist. ↩︎

  12. Hasecke, Jan Ulrich: Demeter und die Allmende des Seins: Spekulativer Essay wider die Ahnenlosigkeit und die Anmaßung des Eigentums. Auflage: 1. 2014. ↩︎