Nicht böse, nur anders

Kürzlich entdeckte ich die RSS-Feeds des Robert-Koch-Instituts, von denen ich einige sofort abonnierte. Bei der Lektüre der Corona-Lagebilder und der Epidemologischen Bulletins des RKI wurde mir eine Metainformation bewusst, die im öffentlichen Diskurs – sowohl in den klassischen als auch in den sozialen Medien – komplett ausgeblendet wird. Leider vermag ich nicht mehr anzugeben, wo genau ich auf diese Information stieß. Vermutlich habe ich sie aus verschiedenen Formulierungen des RKI synthetisiert. Und zwar geht es dabei um die allgemeinen, internen und oftmals nicht explizierten Richtlinien einer Organisation.

Diese Richtlinien, mit Hegel könnte man auch vom Geist einer Institution sprechen, prägen ihr Handeln in entscheidender Weise. Und da jede Institution ihre eigenen Verfahrensweisen hat, kommen Institutionen trotz gleicher Datenlage und evidenzbasierten Arbeitens zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im öffentlichen Diskurs heißt es dann gleich, eine Frage sei umstritten. Und da die Medien vom Geschrei leben, werden die unterschiedlichen Einschätzungen und Empfehlungen dann auch gerne aufgebauscht und skandalisiert.

Dass dieser ›Streit in der Wissenschaft‹ auch gerne von allerlei Gelichter zum Vorwand genommen wird, um die eigene Weltanschauung – und sei sie noch so bizarr – erfolgreich in Szene zu setzen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn im empirischen Diskurs die Bedingtheit wissenschaftlicher Empfehlungen nicht thematisiert wird, laufen wir Gefahr die Vielfalt von Perspektiven als etwas Negatives zu empfinden, das es gilt, mit aller Macht zu vermeiden.

Wenn die WHO, die Europäische Arzneimittelbehörde und das Robert-Koch-Institut bei ihren Empfehlungen während der Corona-Pandemie unterschiedliche Empfehlungen abgaben, heißt das nicht, dass nach populärer Vulgärlogik mindestens zwei von diesen drei sich widersprechenden Empfehlungen notwendig falsch sein müssen. Handlungsempfehlungen, wie sie die Ständige Impfkommission kontinuierlich und lagebedingt formuliert, sind keine Fakten, die durch Messungen belegbar sind. Es sind Empfehlungen für ein zielführendes Handeln auf Basis einer Interpretation von Daten und Fakten und auf Basis eingespielter, situationsübergreifender Praktiken. Wer die Macht dieser internen Kultur unterschätzt, muss zwangsläufig an den unterschiedlichen Empfehlungen verzweifeln.

Das heißt nicht, dass die Praktiken niemals hinterfragt werden dürften; wer sich aber der Praktiken nicht bewusst ist, neigt dazu, eine naive Auffassung von Wissenschaftlichkeit zu verdinglichen. Und wenn diese verdinglichte Sicht mit der Wirklichkeit kollidiert, müssen Verschwörungstheorien her, um die Widersprüche zu überdecken.

Der öffentliche Diskurs hätte hier die Aufgabe, für mehr Transparenz zu sorgen, indem er offenlegt, dass jede Empfehlung durch Praktiken bestimmt ist, die nicht böse, sondern bloß in jedem Fall anders sind. Stattdessen stilisieren die Medien die kulturbedingten Differenzen zum essentiellen Streit oder denunzieren unbequeme Empfehlungen gleich als interessengeleitet. Dass die Politik den wissenschaftlichen Diskurs immer häufiger durch PR-Aktionen verfälscht und die wissenschaftliche Forschung durch eine prekäre Finanzierung in die wirtschaftliche Abhängigkeit von Interessen Dritter treibt, macht die Situation nicht besser. Das einzelne empirische Subjekt kann die Kontextualisierung wissenschaftlicher Empfehlungen allein nicht leisten und seine neoliberale Heroisierung als mündigen Bürger ist keine Lösung, sondern Teil des Problems. Da ist es vielleicht ein erster Schritt, wenn wir uns mit unseren Institutionen, also in unserem Fall mit dem RKI, auch einmal solidarisierten, anstatt von ihnen einfache Lösungen für komplexe Probleme zu fordern.