Nachrichten rufen Irrsinn hervor

Walter Benjamin schreibt im Passagenwerk (E°,33):

»1863 publiziert Jacques Fabien ›Paris en songe‹. Er entwickelt darin wie Elektrizität durch die Überfülle von Licht vielfache Erblindung, durch das Tempo des Nachrichtendienstes Irrsinn hervorruft.«

Die affirmative Fortschrittserzählung hat eine eigene Schublade für solche fortschrittskritischen Äußerungen aus der Zeit der Industrialisierung. Es ist die Schublade der schrulligen Verlierer, die ohne Zweifel von der Geschichte widerlegt wurden. Und wenn sich kein borniertes Zitat eines hoffnungslos Abgehängten finden lässt, erfinden die Apologeten des Fortschritts auch gerne selbst eins. Unter die erfundenen Zitate muss man wohl die Warnung des bayrischen Obermedizinalkollegiums aus dem Jahr 1835 einsortieren, die besagte, dass Bahnfahrten mit mehr als 30 km/h unweigerlich eine schwere Gehirnerkrankung auslösen würden. Ein Bahnhistoriker konnte jedenfalls nicht einmal ein Obermedizinalkollegium in Bayern um 1835 ausmachen. So lesen wir es auf der glaubwürdigen Seite von ehemaligen Mobilfunkgegnern, die sich vom Saulus des Elektrosmogs zum Paulus der Mobilfunkunternehmen wandelten.

Doch die Mobilfunk-Proselyten irren. Die Eisenbahnkrankheit, die Zittern, Ermüdung, Erschöpfung, nervöse Reizbarkeit und Verdauungsstörungen hervorrufen soll, kennt heute jeder, der sich in überfüllten und verspäteten Zügen zu seinem Zielort quälen muss. Sie ist also mitnichten zwischen 1860 und der Jahrhundertwende abgeklungen, weil sich die Reisenden an die neue Sensation der irrsinnigen Geschwindigkeit gewöhnt haben.

Doch kommen wir zurück zu Jacques Fabien, über den ich nicht viel in Erfahrung bringen konnte. Auf dem Klappentext einer Neuauflage seines sozialutopischen Buches wird er als Notar und Gründer des ›Oeuvre des loyers du XVIe arrondissement‹, vermutlich einer Art Mieterorganisation im 16. Arrondissement, und Vize-Präsident der Société d’encouragement au bien beschrieben. Er war also Sozialutopist und damit auf seine Art fortschrittsgläubig.

In dem Buch ›Paris en songe‹ nimmt der Erzähler nach langer Abwesenheit im Jahr 1863 den Zug nach Paris und entdeckt eine Stadt ohne Fabriken, »in der Arbeiter in billigem Wohnraum lebten, Straßenmusiker subventioniert wurden, öffentliche Brunnen Wasser im Überfluss verteilten und alle Dienstleistungen und Güter für die meisten Menschen zugänglich waren.«1 Fabien setzt eine sozialistischen Utopie gegen den Luxus und die Exzesse des Zweiten Kaiserreichs.

Benjamin notierte sich im Passagenwerk jedoch nicht die Einzelheiten der Fabienschen Sozialutopie, sondern nur seine seltsame Warnung vor der Elektrizität. Vermutlich interessierte ihn das Schrullige an der Äußerung, die doch am Anfang des letzten Jahrhunderts als widerlegt gelten musste. Als Mann des 20. Jahrhunderts konnte er die Warnung Fabiens nicht ernst nehmen. Aber vielleicht ahnte Benjamin auch angesichts des Irrsinns seiner Landsleute, die ihn in die Flucht und schließlich in den Tod trieben, dass der Vize-Präsident der Gesellschaft zur Beförderung des Guten doch hellsichtiger war als die Apologeten der Zeitungspresse.

Heute kann Jacques Fabien, was seine Warnung vor einer Beschleunigung des Nachrichtenwesens angeht, als vollständig rehabilitiert gelten. Medienhypes, Shitstorms, ein twitterndes Toupet im Weißen Haus und ungezählte Social-Media-Influencer bringen den galoppierenden Irrsinn über uns. Jede Nachricht ist schon veraltet, bevor sie vom Erstbesten zitiert wird. Das Furienheer der Medien lebt von den Erregungswellen, die es selbst produziert. Jüngstes Beispiel dieses Irrsinns ist die Art, wie die Medien ein sechzehnjähriges Mädchen aus Schweden hypen, dann den Hype, den sie selbst entfacht haben, kritisch hinterfragen, endlich ein Haar in der Suppe finden und das Mädchen dann in Grund und Boden verdammen. Die Beschleunigung des Nachrichtendienstes durch die Elektrizität hat den Journalismus vollkommen irrsinnig gemacht. Vielleicht sollten wir ihm den Stecker ziehen, damit der rotierende Reporter und wir wieder zur Besinnung kommen.

Und was das Licht angeht, so glaube ich, dass Jacques Fabien auch hierin recht behält. Wer von uns ist denn noch in der Lage, vor lauter Licht die Dunkelheit zu sehen?