Der Erfolg der WELT

Heute redete die WELT auf Seite 1 mal wieder ihren ›Lieben Leser‹ an, um ihm im letzten Satz einer einunddreißig Zeilen langen Selbstbeweihräucherung für sein Vertrauen zu danken. Die offizielle Erhebungsstelle IVW, jedem Leser der WELT natürlich ein Begriff, hat errechnet, dass Vorhut und Schild der deutschen Rechtskonservativen im dritten Quartal 1999 eine verkaufte Auflage von 238888 Exemplaren erreicht habe. Und um diese Zahl besonders aussagekräftig zu machen, ist neben dem Text eine Grafik abgebildet, die jeden Aktienbesitzer misstrauisch machen würde, wenn er sie denn lesen könnte. Die Kurve verläuft steil nach oben und signalisiert eine Verzehnfachung der Auflage, wenn man übersieht, dass der Nullpunkt mit 214000 verkauften Exemplaren schon reichlich hoch liegt.

Dabei hat die WELT eine solche grafische Kosmetik doch gar nicht nötig, schreibt sie doch, dass ihre Auflagensteigerung die stärkste von allen deutschen Tageszeitungen sei. Und wer die Auflage der WELT mit den Wahlergebnissen der CDU vergleicht, hat keinen Grund an dieser Aussage zu zweifeln. Es seien sogar überdurchschnittlich viele junge Menschen unter den neu hinzugewonnenen Lesern, womit dann auch das Phänomen erklärt ist, weshalb die CDU bei jungen Leuten zurzeit so beliebt ist.

Ich möchte der WELT ihren Erfolg ja nicht madig machen, aber ich kann mir eine Frage nun wirklich nicht verkneifen: Wie viele von den 238888 verkauften Exemplaren werden denn vom Leser auch bezahlt? Nach meiner Erfahrung sollte die Zahl um mindestens 1 Exemplar nach unten korrigiert werden.

Warum? Nun da muss ich etwas weiter ausholen. Vor etwas mehr als einem Jahr ist eine Familie in unser Haus eingezogen, die man, um politisch korrekt zu bleiben, als sozial problematisch bezeichnen könnte. Sie zog im August 1998 ein, zahlte jedoch nie auch nur einen Pfennig Miete und wurde daraufhin zum 1. Januar 1999 vom Vermieter hinausgeklagt. Die Wohnung wurde daraufhin von Grund auf renoviert. Sie befand sich wirklich in einem beklagenswerten Zustand und verströmte einen Geruch, dass ich zum ersten Male in meinem Leben Mitleid mit einem Handwerker hatte.

Diese Familie hatte im August 1998, gleich nach ihrem Einzug, die WELT abonniert. Ob das Abo jemals bezahlt wurde, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls hat die Familie nach ihrem Auszug dem Abo-Dienst der WELT ihre neue Adresse offensichtlich nicht mitgeteilt. Denn seither flattert uns pünktlich jeden Morgen eins der 238 888 Exemplare der WELT ins Haus.

Nun möchte ich nicht behaupten, dass alle ›Abonnenten‹ der WELT arbeitslose Sozialhilfeempfänger sind, die ihren – laut Mietvertrag nicht erlaubten – Hund in die Wohnung pissen lassen und sich vor lauter Sentimentalität von ihren Essensresten nicht trennen können. Nur ich frage mich, ob es überhaupt noch einen Deppen gibt, der sein WELT-Abo tatsächlich bezahlt. Doch eine solche Statistik werden wir mit Sicherheit nicht auf Seite 1 der WELT finden, sondern – wenn überhaupt dann wohl verschlossen im Giftschrank des Springer Verlags. – Solingen 16. Oktober 1999