Merry X-mas, Mr. Bliar!

Geh’ nicht bei Rot über die Straße, steig’ nicht zu fremden Männern ins Auto und lauf’ im Sommer nicht mit dicken Jacken durch London, wenn du nicht aussiehst wie diese rothaarigen, hässlichen Engländer! Das sollte zukünftig die kluge Mutter ihren schwarzhaarigen, fremd aussehenden Kindern raten: Tust du es doch, mein Kind, kannst du dir schnell sieben Kugeln in den Kopf einfangen. So begann ich am 26. Juli 2005 eine Sudelei, die ich jedoch sogleich wieder abbrach.

Die Realität erwies sich allerdings wieder einmal als zynischer denn der böseste Witz. Mittlerweile wissen wir, dass eine Mutter auch dann um ihren Sohn in London fürchten muss, wenn dieser im Sommer eine Jeansjacke trägt und auf die in zivilisierten Ländern übliche Art und Weise eine U-Bahn betritt.

Nun ist es in einem Land, in dem sich der Regierungschef eine fadenscheinige Begründung für einen illegalen Angriffskrieg zusammenlügt, nicht weiter verwunderlich, dass auch die Polizei lügt. Alles, was wir bisher über den Tod von Jean Charles de Menezes gehört und gelesen haben, war erstunken und erlogen, bis auf die Tatsache, dass er von britischen Polizisten mit gezielten Schüssen in den Kopf getötet wurde. Der junge Brasilianer trug keinen dicken Mantel, unter dem man eine Bombe vermuten konnte, sondern bloß eine Jeansjacke, sodass Angst und Panik als Motive für die gnadenlose und gezielte Tötung ausgeschlossen werden können. Er flüchtete auch nicht vor den Polizisten, übersprang auch keine Absperrung wie Schwarzfahrer es gelegentlich tun, und er stürzte sich auch nicht kopfüber in den U-Bahnwaggon. Alles Lüge.

Den Befehl zur Erschießung des brasilianischen Elektrikers will übrigens niemand gegeben haben. Das ist verständlich. In einem Land, dessen Selbstwertgefühl sich im Wesentlichen aus dem endlosen Ringen gegen den ewigen Nazi-Deutschen speist (»From Hitler Youth to Papa Ratzi«), möchte keiner gerne den Gestapo-Mann spielen. Wahrscheinlich gab ein Schuss den nächsten. Bis die Magazine leer waren und der junge Mann tot.

Irren ist menschlich, dachten sich wohl die Polizisten und Polizeichefs sowie die Handlanger der staatlichen Propaganda in den Zeitungsredaktionen der Boulevardpresse, als sie uns unverfroren das Märchen von dem unangemessen gekleideten Terrorverdächtigen auf der Flucht auftischten. Die Öffentlichkeit wird uns das schon durchgehen lassen, hofften sie und behielten im Großen und Ganzen Recht. Das Schoßhündchen Bushs, der Kriegstreiber Blair, hatte sogar die Stirn, die vom Steuerzahler finanzierten Killer als Helden zu bezeichnen. Nunja, Gestapo-Leute wurden auch mit Orden überhäuft. Dass ein christlicher Fundamentalist wie Blair, der einmal gesagt hat, dass er jederzeit bereit sei, vor seinen Schöpfer zu treten, um sich für die Toten des Irakkriegs zu verantworten, dass ein solcher bigotter Heuchler nicht die Feinsinnigkeit aufbringt, zwischen polizeilicher Notwehr und staatlicher Willkür zu unterscheiden, ist nur zu verständlich. Und er weiß die Medien hinter sich, die sich mit Überschriften, auf die »der Stürmer« stolz gewesen wäre, gegenseitig überbieten.

»One down … three to go!« titelte beispielsweise die Sun, als die Erschießung de Menezes bekannt wurde. In den blutrünstigen Überschriften der Boulevardpresse versteckt sich vielleicht die Antwort auf die Frage, warum de Menezes sterben musste. Er war das Opfer, mit dessen Blut das Blut der Terrortoten in der Londoner U-Bahn abgewaschen und das kochende Blut einer ganzen Nation wieder beruhigt werden sollte. Als die Polizisten am 22. Juli 2005, einen Tag nach der versuchten zweiten Anschlagsserie, de Menezes töteten, vollzogen sie ein Ritual, das älter ist als alle Polizeivorschriften und Menschenrechtsdeklarationen. Es ist das Ritual der Rache, der Vergeltung, mit der das Leben der Gemeinschaft wieder ins Gleichgewicht gebracht werden soll. Seine Wurzeln gehen tiefer als die so genannten westlichen Werte. Wahrscheinlich glaubten die Polizisten, als sie das Leben von de Menezes mit ihren Salven auslöschten, niemals etwas Richtigeres (und Richtenderes) getan zu haben. Jeder wusste, was das blutige Ritual verlangte, sie alle vollstreckten das kollektive Unterbewusste einer ganzen Stadt. Es genügt, sich statt eines Unschuldigen einen toten Terroristen vorzustellen, um vor dem dunklen Gefühl tiefer Genugtuung zurückzuschrecken, das einen durchdrungen hätte, wenn die Polizisten den Richtigen gerichtet hätten. Unter der hellen Oberfläche unserer Zivilisation gähnt ein dunkler Abgrund, in dem das Grauen lauert. Dies Namenlose wäre mit dem so oft missbrauchten Begriff der Erbsünde recht treffend beschrieben. Es macht uns alle zu Mittätern, zu einem Teil des blutigen Rituals. Doch das Alles rechtfertigt es nicht, dieses gewalttätige Ritual auch noch zu feiern, wie die Boulevardpresse dies tat, oder den dumpfen Blutgeruch der atavistischen Raserei zu einer rechtsstaatlich vertretbaren, polizeilichen Taktik zu sublimieren und die dunklen Vollstrecker unseres Unterbewussten zu hellen Helden zu verklären.

Immerhin soll im Mutterland der Demokratie irgendwann um Weihnachten herum der Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission veröffentlicht werden. Unglücklicherweise waren alle Überwachungskameras, die das Geschehen hätten aufzeichnen können, ausgefallen. Zufälle gibt es! Warten wir also auf den Abschlussbericht! Und gibt es ein symbolträchtigeres Datum für die Enthüllung der Wahrheit als das Geburtsfest von Jesus Christus, den Blair, bei allem was er tut, hinter sich weiß? Vielleicht hofft Blair ja insgeheim, dass der Rottweiler Gottes, wie der Daily Mirror den deutschen Papst bezeichnete, im Falle seines Falles auch für ihn ein gutes Wort einlegt. Der Papst hat ein großes Herz. Er betet jeden Tag auch für die islamistischen Terroristen. Da befände sich der britische Premierminister in guter Gesellschaft. Merry X-mas, Mr. Bliar!