Der Weise vom Strand oder Ich stehe hier auf Ground Zero

Den Wasserfluten folgen Bilderfluten

Meine Jungs halten mich seit einigen Tagen für einen weisen Mann. Der Grund dafür ist der natürliche Spieltrieb des männlichen Geschlechts, auch Kind im Manne genannt. Als nämlich im diesjährigen Urlaub an der See endlich die Sonne herauskam und wir an den Strand gehen konnten, schnappte ich mir sofort die Schaufel und begann, unten am Wasser ein kompliziertes Deichsystem mit geregelten Zu- und Abflüssen zu errichten. Als nach einer halben Stunde die ersten Schwielen an den Händen spürbar wurden, entschlüpfte mir der tiefsinnige Satz: »Das Leben ist ein ständiger Kampf um die Deiche.«

Als nun die Medien endlich ihren diesjährigen 11. September gefunden hatten und sogar die Brüll- und Gameshows den Sondersendungen von der Wasserfront weichen mussten, und meine Jungs sahen, wie schon die Kinder in Sachsen Sandsäcke auffüllten und mithalfen die Deiche zu erhöhen, da sagte mein Jüngster: »Papa, weißt du noch …? Das Leben ist nichts anderes als Deiche bauen?« Woraufhin ich dann sagte: »Leider gibt es gegen solche Sondersendungen keine Deiche.«

Das Jahrhundert ist gerade mal 2 Jahre alt, da sprechen alle schon von einer Jahrhundertflut. Kommt dann in zwei, drei oder vier Jahren die Milleniumsflut? Doch wir wollen uns nicht beklagen. Denn während in Entwicklungsländern nach einer Wasserflut meistens Seuchen und Krankheiten ausbrechen, folgt den Wasserfluten bei uns stets eine Flut der Bilder, der Spenden und der Spendenshows. Man hat den Eindruck, dass die Journalisten ob des müden Wahlkampfs eine solche Katastrophe herbeigesehnt haben. Wahrscheinlich fahren die Politiker nur deshalb ins Katastrophengebiet, weil sie den Verdacht haben, die Medien könnten das alles inszeniert haben.

Dabei hat man eher den Eindruck, dass die Flut im Auftrag der Parteien über Bayern und Ostdeutschland hereingebrochen ist. Endlich kann Schröder in Ostdeutschland punkten und die Spendierhosen anziehen. Wusste vor zwei Wochen niemand, für welches marode Unternehmen man die Aufbaugelder Ost denn noch verschwenden soll, hat die Flut nun den Weg freigemacht für ein weiteres Jahrzehnt Solidarpakt. Ganze Stadtteile mitsamt ihrer Infrastruktur können nun wieder aufgebaut werden: ein Hoffnungsschimmer für die Bauwirtschaft im Osten! Da wirken die Vorschläge der Grünen, wie man solche Katastrophen in Zukunft vermeiden könnte, reichlich kontraproduktiv! Obwohl man nicht leugnen kann, dass auch die Grünen vom Hochwasser profitieren. Nur FDP und PDS scheint die Flut einen Strich durch die Rechnung zu machen. Gaga-Guido ist mit seinem außen bunten, innen spießigen Wohnmobil abgesoffen und selbst über Möllemanns Beinaheabsturz mit dem Fallschirm berichtet niemand. Und die PDS kann mangels Regierungsbeteiligung in den betroffenen Gebieten weder Thüringer Würstchen spendieren noch die Renaturierung von Auen fordern. Dass auch die Union vom Hochwasser profitiert, verdankt sie der Tatsache, dass Franz Josef Strauss auf einer Wolke sitzt und es in Passau hat regnen lassen. Denn es kann kein Zufall sein, dass neben Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ausgerechnet Bayern vom Hochwasser betroffen ist. Schließlich kann Stoiber nur in Bayern als Landesvater das Portomonnaie aus der Tasche ziehen und sich als Krisenmanager bewähren und unbürokratische Hilfe versprechen. Wäre Bayern verschont geblieben, hätten CDU und CSU gleich einpacken können. Kein Kamerateam würde Stoiber an der fotogenen Sandsackbarriere empfangen, um ihn zu fragen: »Was können Sie den betroffenen Menschen sagen?« Er kann ja nicht antworten: »Das Leben ist ein einziger Kampf um die Deiche und wir in Bayern stemmen uns seit Jahren erfolgreich gegen die rote und die braune Flut.«

Die Fluten haben vieles hinweggespült: zum Beispiel Gerhard Schröders standhafte Weigerung nach Johannesburg zum Weltklimagipfel zu fahren. Wollte der Autokanzler bisher nur seine grünen Feigenblättchen dorthin schicken, so schickt er sich jetzt an, als Kanzler der Nachhaltigkeit in die Geschichte eingehen zu wollen. Immerhin wissen schon 13 Prozent der deutschen Bevölkerung etwas mit dem Begriff Nachhaltigkeit anzufangen. Mit diesen 13 Prozent dürfte aber das Wählerpotenzial der Grünen auch bis zum Rand ausgeschöpft sein. Will der Genosse der Bosse jetzt im grünen Revier wildern?

Die Flut hat aber auch die letzten Dämme des guten Geschmacks in den Medien mit sich fortgerissen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sich ein martialisch dreinblickender Reporter aus dem zerstörten Grimma mit den Worten meldet: Ich stehe hier auf Ground Zero. – Solingen den 19. August 2002