Ally for president

Seitdem alle Welt weiß, dass in den USA die Wählerstimmen normalerweise nicht ausgezählt, sondern bloß summa summarum überschlagen werden, fühle auch ich eine gewisse Ernüchterung. Ich war zwar immer zutiefst davon überzeugt, dass es sich die Amerikaner nicht aus hypochondrischen Gründen auf den breiten lederbezogenen Liegen der Psychiater bequem machen; dass sie aber beim ersten Versuch, mehr Demokratie zu wagen und die Wählerstimmen einmal richtig auszuzählen, gleich versagen würden, habe ich nicht erwartet. Und die einstürzenden Neuemissionen an den Börsen der Welt beweisen, dass ich mit meinem Entsetzen nicht allein dastehe.

Vor der Wahl haben uns die Börsenspekulanten zugesichert, dass es ihnen scheißegal ist, wer unter ihnen Präsident wird. Überhaupt ist es schwer vorstellbar, dass ein Volk, dass einen Ronald Reagan überlebt hat, Probleme haben würde, mit einem George Bush jr. fertig zu werden. Und einen Al Gore würden die Amerikaner im Weißen Haus schlicht vergessen und erst beim nächsten Wahlkampf überrascht zur Kenntnis nehmen, wen sie da vor Jahren mal gewählt haben. Der Sturz der Kurse hat also nichts mit den Personen zu tun. Nein, es ist die Ernüchterung.

Da hocken also in allen Turnhallen Floridas an Dutzenden von Tischen jeweils drei Menschen sinnend über einem Stapel Wahlzettel und vollführen ein geradezu filmreifes Ritual. Der Wahlhelfer nimmt Wahlzettel für Wahlzettel einzeln in die Hand, hebt ihn hoch und hält das Urteil eines US-Bürgers gegen das Licht, um zwei Anwälten, einem republikanischen und einem demokratischen, die Gelegenheit zu geben, ihre fadenscheinigen Argumente über die Position des Lochs im Wahlzettel in geschliffener Rede und Gegenrede auszutauschen, bis man sich geeinigt hat. Dann wiederholt sich die Prozedur mit dem nächsten Wahlzettel. Stundenlang. Tagelang. Mit der unbeirrbaren Hartnäckigkeit wie sie nur Amerikaner an den Tag legen können. Selbst im Kosovo genügten ein paar Wahlbeobachter der UNO und einige Blauhelme, um eine demokratische Wahl zu veranstalten. Doch hier in Florida machen sie aus einer einfachen Abstimmung einen kompletten O.J. Simpson-Prozess mit allem Drum und Dran; nur dass die Leiche diesmal keine Frau ist, sondern eine Nation inklusive ihres schalen Traums. Und wie die Amerikaner diesmal das in dubio pro reo interpretieren, bleibt vorerst noch ihr Geheimnis.

Demokratie ist unter diesen Vorzeichen bestenfalls als realitätsferne Utopie zu betrachten oder als Seifenoper. Und das weltweit, denn während sich in Amerika die Anwälte ineinander verbeißen, ist es bei uns die europäische Kommission, die den Wählerwillen freizügig interpretiert. Da schrumpft die Legitimation der freien Welt für ihre finalen Kreuzzüge gegen die letzten Diktatoren auf diesem Planeten rapide.

Die einzige Weltmacht in den Fängen einer Horde von Anwälten, Russland und halb Asien im Griff orthodoxer und muslimischer Fundamentalisten. Und Europa zelebriert selbstverliebt seine splendid Kleinstaaterei. Besser hätten wir nicht ins neue Jahrtausend starten können. Wenn die misslungene US-Wahl wenigstens die Folge eines fahrlässig übersehenen Y2K-Bugs wäre, könnte man ja noch alles auf die Technik schieben, aber so…

Allzu gerne würde ich zum Abschluss ja aus einer beliebigen Unabhängigkeitserklärung zitieren, um die utopische Potenz der Freiheit hochzuhalten, doch ich will lieber zeitgemäß bleiben und fordere deshalb neurotisch oder nicht: Ally for president! – Solingen 20. November 2000