Die letzten hundert Tage Helmut Kohls, oder zahlt die CDU mein Schnupper-Abo?

Pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft bekamen wir ein Schnupper-Abo des Solinger Tageblatts. Toll, dachte ich und schlug gleich den Sportteil auf, um Nachrichten nationaler Bedeutung über den gezähmten Lothar und den wiederauferstandenen Klinsi zu lesen. Doch die rechte Lesefreude wollte nicht aufkommen. Sogar die Fernsehkommentare eines Johannes B. Kerner sind spannender als die Bleiwüsten des Sportkorrespondenten aus Frankreich.

Nun soll ja ein Schnupper-Abo den Leser geneigt machen, ein richtiges Abo zu bestellen. Eins, von dem man sich frühestens nach einem Jahr wieder befreien kann. Also fragte ich mich: Womit will mich das Tageblatt ködern? Mit dem Sport, der Kultur, dem Wirtschaftsteil, den Kleinanzeigen? Auch die seitenstarken Werbebeilagen konnten mich nicht so recht begeistern.

Wie ich aber nun gestern so vor mich hin blätterte, da fiel mir auf Seite 2 der politische Kommentar ins Auge: ›Helmut im Glück?‹ Da kam die rechte Lesefreude auf! Aber die ganz rechte. Wie Schuppen fiel es mir aus den Haaren! Nicht das Tageblatt sollte ich beschnuppern! Nein! Den Stallgeruch der großen weit blickenden Regierung sollte ich vernehmen! Nicht die Zeitung wollte abonniert werden! Nein! Die CDU will ihr Regierungs-Abo um weitere vier Jahre verlängern. Welch eine Vorstellung! Schnell in die blaue Tonne mit dem schwarzen Blatt!

Wie um mich vom Alb einer zwanzigjährigen CDU-Herrschaft über Deutschland zu erlösen, erschien dann gestern vormittag die Newsflash-E-Mail von Wahlkampf98 auf meinem Bildschirm.

Date: Fri, 19 Jun 1998 09:03:20 +0200
From: Peer-Arne Boettcher <peer@wahlkampf98.de>
Reply-To: <info@wahlkampf98.de>
To: <wahlkampf98@netwhere.de>
Subject: w98-Newsflash vom 19. Juni

Willkommen beim Wahlkampf98-Newsflash 86/98! <http://www.wahlkampf98.de>

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Es sind noch 100 Tage bis zur Bundestagswahl

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Inhalt:

+++ Pressestimmen vom Donnerstag

CDU bei 31 Prozent! Meinungsforscher sehen die Union am Abgrund

Im Osten liegt die CDU sogar hinter der PDS

aus Hamburger Morgenpost vom 19. Juni

Ist das wirklich wahr? Nur noch einhundert Tage müssen wir den bleiernen Kanzler ertragen? Welch Ausblick ins Freie! Was sind schon einhundert Tage, wenn man schon über fünftausendachthundert hinter sich gebracht hat und fürchten muss, weitere eintausendvierhundertundsechzig hinter sich bringen zu müssen! Ich geriet in eine seit Jahren nicht mehr gekannte euphorische Stimmung. Wir werden frei sein! – Oder werden wir wieder wie schon allzu oft am Wahlabend um 18:01 Uhr aus den süßesten Träumen gerissen und das beleibte Gespenst steht wieder vor uns! Für weitere vier Jahre!

Nein! Ich bin Optimist, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Heute ist der erste der letzten hundert Tage Helmut Kohls als Kanzler seiner Republik.

Übrigens: Meine Verwunderung über den tendenziösen Kommentar brachte ich in einem Leserbrief ans Tageblatt zum Ausdruck. Die Controller in der CDU-Wahlkampfzentrale reagierten sofort. Heute war kein Tageblatt mehr im Briefkasten. – Solingen, den 20. Juni 1998