Die Eschatologie der Gaskammer

Wenn Karl und Walter LaGrand eine deutsche Bank überfallen und dabei den Kassierer erschossen hätten, wären sie heute – 15 Jahre nach ihrer Verurteilung – wahrscheinlich wieder auf freiem Fuß. So aber wurden sie nach 15 Jahren Gefängnis hingerichtet. Gestern starb Walter LaGrand eine Woche nach seinem älteren Bruder, einen qualvollen Tod in der Gaskammer. Über 6 Minuten dauerte sein Todeskampf in der Kabine, und erst 18 Minuten nach Beginn der Hinrichtung wurde er für tot erklärt.

Der Pilot, der mit seinem Jet im extremen Tiefflug am 3. Februar 1998 in Cavalese eine Gondel in die Tiefe und 20 Menschen in den Tod gerissen hat, wurde heute vor einem US-Militärgericht von allen Anklagepunkten freigesprochen.

Und US-Außenministerin Albright hielt vorgestern den Chinesen eine Standpauke über Demokratie und Menschenrechte. In China wird die Todesstrafe recht schnell vollstreckt, in den USA wartet man mit Hinrichtungen bis Gouverneurswahlen anstehen. Alle vier Jahre sucht sich der amtierende Gouverneur in den Todeszellen seines wunderbaren Landes einige Wahlhelfer aus, die ihm auf dem Weg zur Wiederwahl behilflich sein dürfen. Die Auswahl ist groß, denn in den USA sitzt der Colt locker und an ehrbaren Bürgern, die als Geschworene auf schuldig erkennen, herrscht auch kein Mangel. Die Gefängnisse sind also immer voll von Wahlhelfern, die wie Mastvieh nur noch eine Aufgabe zu erfüllen haben, den Tisch der Herren reichlich zu decken. Und die überwältigende Humanität der Amerikaner zeigt sich darin, dass sie für jede Wahl nur ein oder zwei Wahlhelfer verbrauchen und die übrigen für weitere Wahlkämpfe schonen.

Amerika ist gläubig. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und um auf Nummer Sicher zu gehen und eine gute Show garantieren zu können, haben sie das Fegefeuer gleich auf die Erde geholt. Die Mörder werden zum Tode verurteilt und 15 Jahre lang in einem rechtstaatlich perfekt organisiertem Purgatorium so lange ausgebrannt, dass es stets geläuterte Mörder sind, die in die Gaskammer gehen oder auf eine Liege geschnallt werden, um eine medizinisch genau abgestimmte Todesinfusion zu erhalten. Dead man walking. Die Verurteilten entschuldigen sich bei den Angehörigen ihrer Opfer, die der Hinrichtung beiwohnen: und das Verbrechen ist gesühnt. Das Völker- und Menschenrecht ist gegen dieses eschatologische Delirium eine abstrakte Größe.

Natürlich werden Ausnahmen zugelassen, wenn – wie im Fall von Cavalese keine Amerikaner getötet wurden und der gute Ruf der Armee auf dem Spiel steht; oder wenn der Mörder O.J. Simpson heißt, steinreich ist und die Verurteilung eines schwarzen Sportidols das amerikanische Trauma der Rassenunruhen der 60er Jahre wieder heraufbeschworen hätte. Angesichts der drohenden Unruhen in L.A. ging damals wohl Staatsräson vor der finalen Gerechtigkeit durch die Giftspritze, den elektrischen Stuhl oder die Gaskammer.

Die deutsche Regierung will alles getan haben, um die Hinrichtung der beiden deutschen Staatsbürger zu verhindern. Völkerrechtliche Bedenken brachte sie aber erst wenige Stunden vor der Hinrichtung vor. Die Amerikaner sind unsere Freunde. Gut, dass wir sie haben, sonst würde uns was fehlen, denn unsere Feinde im Osten sind uns ja kürzlich verloren gegangen. – Solingen 4. März 1999