Da hilft auch kein Ausschwitzen!

Von Farbbeuteln und der ›deutschen Krankheit‹

Mit Trillerpfeifen und Farbbeuteln versuchten sich friedensbewegte Demonstranten beim Bielefelder Sonderparteitag der Grünen bei Außenminister Fischer Gehör zu verschaffen. Vergebens. Einer der Kriegsgegner war sogar dermaßen darüber erzürnt, dass Joschka Fischer für ihre Argumente kein offenes Ohr hatte, dass er mit einem beherzten Farbbeutelwurf nachhalf. Natürlich hätte dieser Wurf auch ins Auge gehen können. Dann wäre Fischer heute vielleicht auf dem rechten Auge blind. Dennoch bliebe der Einäugige König.

Bei einem Teil der Grünen scheint wieder einmal die deutsche Krankheit ausgebrochen zu sein. Die deutsche Krankheit, für die das Wort Sektierertum nur annäherungsweise den Kern der Sache trifft und die in regelmäßig wiederkehrenden Epidemien Deutschland heimsucht, trat erstmals nach dem Tode von Kaiser Karl dem Großen auf. Seither haben die Deutschen, zunächst gegenüber dem römischen Papst, die allein selig machende Wahrheit für sich beansprucht. Doch den Wahrheitssuchern geht es wie den Atomphysikern. Auf der Suche nach dem wahren Kern der Dinge spalten sie die Materie immer weiter und immer weiter, bis die Fragmente des Atoms so klein geworden sind, dass man sie eigentlich alle beim Vornamen ansprechen könnte.

Nachdem der sektiererische Virus die Deutschen einmal befallen hatte, breitete er sich schnell in alle Lebensbereiche aus. Zunächst spaltete er mit Luthers Hilfe die Kirche in eine katholische und eine protestantische Fraktion. Und während die Katholiken glaubten, die Wahrheit schlummere in den Kellern des Vatikans, waren die Protestanten schon immer davon überzeugt, ihr Seelenheil in Form erbaulicher Sprüche mit nach Hause tragen zu können. Das Unheil nahm seinen Lauf. Drei Protestanten: eine neue Kirche. Zwei Protestanten: ein Schiff nach Amerika. Ein Protestant: ein Entwicklungsroman.

Dann so um 1789 überfiel der Virus die deutsche Linke und die Nachsilbe -ismus wurde geboren. Drei Linke: eine Partei. Zwei Linke: eine Fraktion. Ein Linker: ein Manifest.

Gottseidank wurde nach 1945 auch die deutsche Rechte vom Virus infiziert und machte aus Millionen kleiner Nazis lauter kleine Führer. Seitdem kann man Entwarnung geben. Keine Millionen mehr, nur noch der Führer selbst steht hinter sich.

Seit Mitte der Neunziger Jahre hat der Spaltvirus auch die Mitte erreicht, in der plötzlich alle die demoskopisch gemittelte und damit mehrheitsfähige Wahrheit zu erblicken glaubten. Doch schon war es passiert. Neben der alten Mitte entstand schnell eine neue Mitte, dann haste nich gesehn – eine liberale Mitte, eine soziale Mitte, eine grüne Mitte. Drei Politiker: eine neue Mitte. Zwei Politiker: die wahre soziale Mitte der neuen Mitte. Ein Politiker: ein ›Wetten, dass‹-Auftritt. Bald ist jeder sein eigener Parteivorsitzender.

Durch den Beitritt Deutschlands zur Nato und zur EU sprang der Virus auf andere Nationen über. Besonders heftig wütete der Virus in Jugoslawien. Vermutlich haben jugoslawische Gastarbeiter den Sektenvirus in den 70er Jahren aus Westdeutschland eingeschleppt. Drei Jugoslawen: ein Staat. Zwei Jugoslawen: eine autonome Provinz. Ein Jugoslawe: ein Flüchtlingsdrama.

Vom Balkan sprang der Virus über aufs diplomatische Parkett: Drei Staatsmänner: eine missglückte UN-Mission. Zwei Staatsmänner: ein ergebnisloses Gipfeltreffen. Ein Staatsmann: ein Friedensplan.

Und nun werden die Grünen erneut von einem heftigen Fieberanfall durchgeschüttelt. Statt Politik zu machen, sucht jeder sein eigenes säkulares Seelenheil. Wie kann man, so fragt sich mancher erschreckt, wie kann man auf der richtigen, der allein selig machenden Seite stehen, wenn man Bomben auf Serbien wirft? Ist das noch meine Partei? Ist das noch die allein heilsbringende Partei, die mir immer und zu jeder Zeit die Gewissheit gibt, vom Weltgeist Absolution zu erlangen? Nein, wird mancher, wie aus seligem Traum erwacht, in die bittere Welt hinaus schreien und sein beflecktes Parteibuch mit spitzen Fingern zurückgeben! Schon rafft der Sektierervirus so manches grüne Parteimitglied hinweg. Drei Grüne: ein neuer Flügel. Zwei Grüne: eine Doppelspitze. Ein Grüner: eine Karteileiche.

Da hilft nur Ausschwitzen (nicht zu verwechseln mit Auschwitzen), könnte man meinen, doch weit gefehlt! Was nützt die schönste Austrittswelle, wenn für zwei, die der Partei den Rücken kehren, einer neu hinzukommt? Der Virus lauert überall. Und überhaupt: der Austritt ist Symptom nicht Therapie. Rettung verspricht nur ein altes Hausrezept: anfangen, Politik zu machen. Doch das ist mühsam, führt nicht ins Himmelreich und wirkt überdies anziehend auf Farbbeutel. – Solingen 17. Mai 1999