Nach der Schlacht…

…ist vor der Schlacht, lautet eine alte serbische Todesweisheit. Was, so fragt man sich als Bürger, Souverän und vor allen Dingen als Steuerzahler, was haben unsere Regierungen eigentlich vor, in nächster Zeit in Sachen Nato gegen Milosevic zu unternehmen? Das Gemurmel über Bodentruppen, die man schon 1992 hätte schicken sollen, wird immer lauter, gleichzeitig wird aber auch das Gegrummel unserer neuen Troika, Schröder, Fischer, Scharping, immer vernehmlicher, die beklagen, von den Amerikanern immer nur unscharfe Satellitenbilder zu erhalten.

Die freitägliche Tatarenmeldung, die Russen hätten ihre Atomraketen wieder auf westliche Städte programmiert, hat uns allen noch einmal vor Augen geführt, dass Russland wirtschaftlich, politisch und moralisch schon so heruntergekommen ist, dass es sich – slawische Genetik hin oder her – ausgerechnet als Schutzmacht für den schlimmsten europäischen Völkermörder seit Hitler und Stalin aufspielen muss; zwar seine Lehrer nicht mehr bezahlen kann, aber immer noch als Atommacht Weltpolitik betreiben will und wahrscheinlich den Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts in Händen hält.

Seitdem Napoleon im Schein des brennenden Moskau die leise Ahnung beschlich, dass es nur ein verdammt böser Geist gewesen sein konnte, der ihm die wahnhafte Idee eingegeben hatte, Russland zu überfallen, wurde kein Krieg in Europa mehr ohne das Zutun Russlands entschieden. Die so genannten Befreiungskriege der Deutschen gegen Napoleon wären ohne russische Truppen im Sande der Kleinstaaterei verlaufen. Die von Scharmützeln durchflochtene Zeit des 19. Jahrhunderts hat Russland ebenso bestimmt, wie die kriegerische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Und den ersten Weltkrieg haben die Russen bekanntlich nur deshalb vorzeitig beendet, weil sie ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihren Zaren zum bitteren Ende bringen mussten. Die Macht Russlands ist so groß, dass von dem Tag an, als Hitler die Sowjetunion überfiel, die Deutschen ihre Söhne immer seltener auf den Namen Adolf tauften. Von 1945 bis 1989 war die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Macht, sie hatte im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht, konnte das Leben auf unserem Planeten auslöschen und stand mit ihren Truppen an der Elbe.

Der alternden Europa, die seit 200 Jahren bewusst oder unbewusst nach Westen schaut und sich nach der Freiheit Amerikas sehnt, sitzt seit eben dieser Zeit der grimme Alb Russland im Nacken. Russland, ein Land, dass aufgrund seiner riesigen Ressourcen wie ein östliches Gegenbild Amerikas erscheint – nur mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorzeichen, die alle im Minus stehen. Russland ist die Geografie gewordene gesellschaftspolitische Folie, von der sich Westeuropa und seit 1989 auch Osteuropa entschlossen abwendet. Russland wird immer einsamer. Nur die Diktatoren von Weißrussland und Serbien schmiegen sich noch an den großen Bruder.

Aber die Frage, ob die Menschenrechte in ganz Europa Gültigkeit haben sollen, entscheidet sich nicht in Belgrad und nicht in Brüssel, sondern in Moskau. Entweder Russland wird europäisch, oder es verfängt sich in den Widersprüchen seiner fatalen Geschichte und implodiert wie ein alternder Stern.

Aber bis das schwarze Loch Russland ganz Europa ins Nichts gezogen hat, müssen wir das Land erst einmal nehmen, wie es ist. Russlands theatralisch in Szene geworfene Nibelungentreue zu dem Mörderregime in Belgrad, und sein Wunsch, vom Westen als gleichrangig angesehen zu werden, könnte die letzte Chance sein, den Konflikt mit Milosevic auf eine Weise zu lösen, bei der Russland an Ansehen gewinnt und die Nato ihres nicht völlig verliert. Milosevics Überleben hängt nur am seidenen Minderwertigkeitskomplex Russlands. Solange die labile Präsidialdemokratie Russlands meint, sich innenpolitisch gegenüber dem Westen profilieren zu müssen, solange kann Milosevic weitermorden.

Womit wir wieder beim serbischen Sprichwort, das in Wirklichkeit keines ist, angekommen wären. Die Nato täte gut daran, den Einsatz von Bodentruppen vom Einverständnis Moskaus abhängig zu machen. Gibt Moskau sein Einverständnis nicht, so kann die Nato ihre Luftangriffe langsam auslaufen lassen und im Übrigen auf die nicht konstruktive Haltung Russlands verweisen. Denn selbst das schlimmste menschliche Elend im Kosovo kann die westlichen Demokratien nicht zwingen, gegen Russland Krieg zu führen. Und genau dies ist die Lücke, durch die die Nato dem Wahnsinn des Balkans entschlüpfen kann. Und wenn die UCK in der Zwischenzeit verhindert, dass sich die von Belgrad geschickten serbischen Siedler im Kosovo festsetzen, steht Belgrad vor seinem Vietnam und nicht die Nato. Und die fanatisierten Demonstranten auf den Belgrader Brücken werden sich zermürbt durch schwere Wirtschaftssanktionen vielleicht wieder gegen Milosevic wenden.

Bleiben die Flüchtlinge aus dem Kosovo, die wohl mit Hilfe unserer Steuergelder in Albanien, vielleicht auch im unberechenbaren Mazedonien, einige Jahre unterhalten werden müssen. Das mag sich alles zynisch anhören, aber ich denke, unser Bismarck hatte nicht ganz Unrecht. Der Balkan ist es nicht wert, dass dafür auch nur ein Nato-Soldat seine Knochen hinhält.

Russland mag sich in der Zwischenzeit als Führer einer politischen Lösung auf dem Wiener Kongress profilieren. – Solingen 9. April 1999