Evadam, das 8000000000ste

Am 12. Oktober 1999 gebar eine 29jährige Bosnierin kurz nach Mitternacht in Sarajewo Adam, den 6000000000sten Erdenbürger. Die Wissenschaft hatte dies bereits in den 70er Jahren vorausgesehen. Die große Studie GLOBAL 2000, die der einzige US-Präsident in Auftrag gegeben hatte, der sich um die Zukunft der Menschheit und nicht um seine Wiederwahl sorgte, hatte geschätzt, dass die Weltbevölkerung im Jahr 2000 auf 6,35 Mrd. angewachsen sein würde. Die Prognose war also überraschend exakt. Hätte China nicht als einzige Nation aus dem Bericht eine Lehre gezogen und die Ein-Kind-Politik eingeführt, wären noch einmal einige Hundert Millionen Menschen oben drauf gekommen. Die Studie hatte prognostiziert, dass die chinesische Bevölkerung im Jahr 2000 auf 1,329 Mrd. Menschen angewachsen sein würde; tatsächlich wurde diese Zahl erst acht Jahre später erreicht.

Zwölf Jahre später, am 31. Oktober 2011, gesellte sich Eva, die 7000000000ste hinzu. Heute, am 15. November 2022, kam das Menschenkind Nr. 8000000000 auf eine Welt, die unter dem Druck der Gattung Mensch vor unseren Augen zusammenbricht.

Zwei Dinge können wir festhalten. Erstens: Unsere Wissenschaftler sind verdammt gut darin, die Zukunft zu prognostizieren. Zweitens: So gut wie niemand zieht aus ihren Berechnungen Konsequenzen. Da passt es gut, dass in diesen Tagen die 27. Auflage der sogenannten Weltklimakonferenz über die Bühne geht, auf der Hunderte von Wissenschaftlern, Hunderten von Politikern ins Gewissen reden, in der verzweifelten Hoffnung, diese zum Handeln zu bewegen. Seit 26 Konferenzen ist jedoch nichts passiert. Und es wird auch in den folgenden 26 Konferenzen nichts passieren. Die Vernunft des Menschen ist ein Hirngespinst. Sie konzentriert sich auf die Produktion von Waffen und endet bei der Bequemlichkeit, bei liebgewonnenen Gewohnheiten, spätestens aber beim Geldbeutel und der Rendite.

Eine weitere deprimierende Erkenntnis ist, dass die Menschheit als Ganzes gar nicht existiert, jedenfalls nicht als handelndes Subjekt. Und damit meine ich nicht einmal die Spaltung der Welt aufgrund der Feindseligkeiten zwischen den Großmächten oder wegen der Ausbeutung des Südens durch den Norden oder der sich aufspreizenden Schere zwischen obzönem Reichtum hier und bitterster Armut dort. Selbst bei einem unmittelbar sich aufdrängenden Problem wie der Corona-Pandemie verhielten sich die Staaten wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen, der in alle Richtungen auseinanderläuft. Hätte jedes Land so konsequent wie China auf die Pandemie reagiert, wäre der Virus vielleicht einzudämmen gewesen. Aber die westlichen Idiotien setzen bekanntlich auf Einsicht und freiwillige Selbstverpflichtung.

Die verehrungswürdigste Reliquie der westlichen Idiotien ist die Demokratie. Sie entlarvt jedoch die Vernunft der Gattung Mensch besonders gut. Man muss sich bloß einmal anschauen, wen die einsichtigen Menschen wählen, wenn sie die Wahl haben: entweder die größten Attraktionen aus dem Gruselkabinett des Populismus oder Vertreter der sich selbst verpflichtenden Oligarchien.

Oligarchien sind in sich zwar immer sehr homogene Gebilde, trotzdem sind sie in den einzelnen Ländern jeweils sehr unterschiedlich zusammengesetzt: sie können aus kapitalistischen Superreichen, religiösen Fanatikern, Privatisierungsgewinnlern, traditionell herrschenden Kasten oder Funktionärscliquen bestehen. Aber immer sind es diejenigen, die die Wirtschaft dominieren.

Die Demokratie, von der wir trunken glaubten, sie würde sich nach 1989 weltweit durchsetzen, ist eine der großen Erzählungen des Kapitalismus. Sie passt ihm wie angegossen, da beide den Menschen das Immergleiche in immer neuer Verpackung verkaufen. Das aber machen sie richtig gut.

Die aggressive Dynamik, mit der der entfesselte Extraktionskapitalismus seit über 200 Jahren den Planeten ausplündert, lässt sein großes Versprechen, Wohlstand für alle, sogar als glaubwürdig erscheinen, denn von allem gibt es ständig immer mehr: billige Kleidung, billiges Essen, billige Autos, billige Computer, billige Smartphones. Billiger Wohlstand für alle. Immer mehr Macht für die Oligarchien. Und alles auf Kosten unserer Lebensgrundlagen.

Wohlstand für alle durch Demokratie und Marktwirtschaft, diese Erzählung ist nichts anderes als ein Plagiat der große Freiheitserzählung des Kolonialismus, der in Europa schon im Altertum mit den ersten griechischen Siedlungen rund ums Mittelmeer herum begann und im Wilden Westen des 19. Jahrhunderts seine Kanonisierung erfuhr. Es ist die Verheißung, in einer überbevölkerten Welt noch ein freies Plätzchen für den Wagemutigen und den Gewissenlosen zu finden. Aber es gibt sie schon lange nicht mehr, die weiten Prärien, die Goldküsten, die El Dorados, die Plantagenträume einer Gesellschaft, der es in Europa seit der Antike immer wieder zu eng wird. Wir können uns nicht weiter ausbreiten. Wir haben die Grenzen des Wachstums längst überschritten. Wir müssen schrumpfen. Unsere Wirtschaft muss schrumpfen, unsere Bevölkerung, unser Wohlstand. Und das schnellstmöglich in kurzer Zeit und mit langem Atem. Das geht nicht mit individueller Vernunft und freiwilliger Selbstverpflichtung. Das braucht ein völlig anderes Verständnis vom menschlichen Zusammenleben, den Aufgaben des Staates und der persönlichen Freiheit.

Die westlichen Idiotien scheinen auf diese Herausforderung keine Antwort zu haben. Weder die Herrschenden, noch die Beherrschten. Die Masse der Beherrschten fühlt sich durch die hilflos-verzweifelten Proteste weniger Einzelner sogar in ihrer Bequemlichkeit gestört. Die westlichen Idiotien können die Klimakatastrophe nicht aufhalten. Sie sind zu dumm und zu träge.

Ob China dazu fähig ist, darf ebenfalls bezweifelt werden. Das Land ist mit sich selbst beschäftigt und will erst einmal allen Chinesen zu mehr Wohlstand verhelfen. Das nennt Xi den chinesischen Traum von einer chinesischen Renaissance. Der chinesische Traum ist wie der amerikanische Traum pure Ideologie. Bloß die Vorzeichen sind andere. China war bereits eine Hochkultur als Europa sich noch in der Bronzezeit befand. Und es blieb über Jahrtausende eines der mächtigsten Länder bis es Mitte des 19. Jahrhunderts ins Stolpern geriet und vom Westen sowie von Japan kolonisiert wurde. Mit Mao begann der Wiederaufstieg. Er beendete die Fremdherrschaft. Nach einigen Wirren, wie dem Großen Sprung nach vorn oder der Kulturrevolution, schloss Deng Xiaoping schließlich einen Pakt mit dem Kapitalismus, der 1989 beinahe zum Untergang der Kommunistischen Herrschaft geführt hätte. Die Partei konnte sich nur durch ein blutiges Massaker an der Macht halten. Danach gab es eine stille Übereinkunft zwischen der Partei und dem Volk. Der Wohlstand wächst und die Partei darf herrschen. Was konnte da schon schief gehen? Unvermeidlich begann die Korruption den Staat zu zerfressen, bis Xi Jinping sie mit harter Hand und einigen Todesurteilen eindämmte. In einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen den Kapitalismus beherrschen zu wollen, das ist schon sehr verwegen. Aber momentan fährt das Land ganz gut damit. Es ist auf dem besten Weg, seinen Traum zu verwirklichen und groß, reich und mächtig zu werden. Ob das Land 1989 durch eine siegreiche Demokratiebewegung ins Chaos gestürzt worden wäre, ist schwer zu sagen. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass eine gewählte Regierung, die alles daran setzen muss, wiedergewählt zu werden, eine Jahrzehnte überspannende Vision von dem Land entwickelt hätte.

Von den westlichen Demokratie hat keine einzige eine Vision von der Zukunft, die über den nächsten Wahltag hinausreicht. Deshalb wird diese Regierungsform schwerlich in der Lage sein, eine Katastrophe abzuwenden, die sich über Jahrzehnte langsam, aber sicher ankündigt. Die Regierungen haben schlicht und einfach nicht den machtpoltischen Horizont dazu. Das Gleiche gilt für ebenso selbstherrliche wie einfallslose Autokraten vom Schlage eines Putin oder Erdogan. Großartige Paläste sind das Langlebigste, das man von ihnen erhoffen darf.

Welche weltliche Instanz bleibt uns also noch, die wenigstens intellektuell in der Lage ist, eine Vision für die künftigen Jahrzehnte zu entwerfen? Das ist eine rhetorische Frage, denn ich habe sie im zweiten Satz bereits beantwortet. Es ist die Wissenschaft. Glücklicherweise ist sich die Wissenschaft ihrer Verantwortung bewusst und hat mit Earth for all einen Survival Guide für die Menschheit entwickelt. Was ihr noch fehlt, sind die Gewehre oder, weniger martialisch ausgedrückt, die Macht. Deshalb können wir weiterhin nur hoffen, dass sich bis zum 9000000000sten Menschen die Einsichtigen durchsetzen.