Entschleunigung im Web
Das Internet zerstört unsere Aufmerksamkeit. Es lässt uns mit fiebriger Nervosität von einer Attraktion zur nächsten springen. Die Aufmerksamkeitsspanne, die wir für einen Gedanken aufbringen, nähert sich dem Nullpunkt. Wir verweilen drei Sekunden bei einem Bild, das uns interessiert. Und wehe dem Satz, der länger ist als ein Tweet!
Doch nicht nur wir Leser werden fahrig und unkonzentriert, auch diejenigen, die Artikel schreiben, Bilder einstellen, Sachverhalte erklären oder uns unterhalten wollen, werden immer oberflächlicher. Das war nicht immer so. Die Streams in Twitter, Facebook und Google haben alles beschleunigt. Worte und Bilder schlagen wie Maschinengewehrsalven vor uns auf dem Bildschirm ein. In 60 Sekunden sind wir einmal um die ganze Welt gereist, haben wir das Leiden von Millionen durchgescrollt. Wir oszillieren zwischen Lachen und Empörung. Erholung bietet bloß die Langeweile, wenn wir des Immergleichen einsichtig werden und sich der Stream zu einem Strom verwandelt, in dem wir nur noch die Bewegung der Pixel wahrnehmen.
Nein, das war nicht immer so. Aber seitdem der Browser zur integralen Oberfläche des Webs wurde, wird das Bleiben und Verweilen immer schwieriger. Früher haben wir ein E-Mail-Programm geöffnet, um E-Mails zu lesen, und einen Newsreader, um den Usenet-Diskussionen zu folgen. Wir haben ein Musikprogramm gestartet, um Musik zu hören, und ein Videoprogramm, um Filme anzuschauen. Wir haben einen Texteditor oder eine Textverarbeitung benutzt, um Texte zu schreiben, und ein Kalenderprogramm, um unsere Termine zu überblicken. All das passiert heute nahezu gleichzeitig ohne Startverzögerung im Browserfenster. Die Betriebssystemgrenzen verschwimmen. Es ist völlig egal, mit welchem OS wir arbeiten – das Browsen ist überall gleich. Der Browser ist das OS des Webs.
Um einem Autor früher eine Nachricht zukommen zu lassen, mussten wir eine E-Mail schreiben: also das E-Mail-Programm öffnen, die Nachricht schreiben und versenden. Heute wird gleich im Browser kommentiert. Früher haben wir unsere Webseiten in einem Editor erstellt, anschließend per FTP auf den Server geladen und schließlich im Browser angeschaut. Heute wird direkt im Browser gebloggt.
Twittern, bloggen, kommentieren – kein Wechsel der Werkzeuge sorgt für eine Zäsur. Alles ist im Browser bloß einen Klick entfernt. Die Mühelosigkeit und die Hier-und-Jetzt-Sofortigkeit, mit der wir mitten in der Arbeit, Twitter aufrufen oder E-Mails checken können, verschleiert die Zeit, die durch diese Ablenkung gefressen wird. Minuten vergehen, bis wir wieder auf unsere Arbeit konzentriert sind.
Wer aus diesem Panoptikum der Ablenkung entfliehen will, braucht ein Web ohne Browser. Oder ein Buch. Denn während Zeitschriften und Zeitungen wie tote Screenshots des Webs wirken und unsere Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln können, behaupten sich Bücher in der universalen Zerstreuung als Orte der Sammlung. Sie müssen dabei nicht einmal aus Papier sein. Es können auch E-Books sein.
So und nun bitte, Browser zu und Buch auf.