Nacht

Es ist, als wäre es Nacht um mich. Eine Nacht des Geistes, eine Nacht des Willens, eine Nacht der Tat.

Gespenstisch laut wie das Knarren alter Dielen im schlafenden Haus nehme ich meine Leidenschaften, Sehnsüchte und Ängste wahr, ohne zu wissen, woher die Geräusche in meinem Inneren kommen, und ohne zu wissen, ob mich der unruhige Halbschlaf nicht doch narrt und es im ganzen Haus in Wirklichkeit totenstill ist. Wie ein fremder Wanderer, den die Nacht überrascht hat, gehe ich durch die Dunkelheit, kann den Weg kaum erkennen, weiß nicht einmal, ob es ein Weg ist, dem ich meine zu folgen. Ich glaube ein Ziel zu haben und bald anzukommen, obwohl ich längst im Kreis gegangen sein mag. Die Wege im dunklen Wald, so bilde ich mir ein, habe ich alle im Kopf. Ich habe sie mir vor Jahren eingeprägt, habe die Entfernungen gemessen, die Sehenswürdigkeiten und Abgründe markiert. Am Tag wäre es ein leichter Spaziergang, doch nun in der Nacht kann ich die Abgründe nicht ausmachen und die Schönheiten verbergen sich in undurchdringlichem Schatten. Das Gehen ist schwer. Müdigkeit überfällt mich und weicht in der nächsten Minuten einer hellsichtigen Wachheit. Ich bin nicht allein in der Nacht, denn es ist nicht meine Nacht, in der ich irre, es ist unsre Nacht. Doch in der Dunkelheit ist jeder einsam. Wessen Schritte höre ich an mir vorübergehen? Wessen verstellte Stimme klingt von fern herüber und spricht in fremder Sprache? Die Nacht ist für Selbstgespräche gemacht, auch wenn man umschlungen beieinander liegt. Man hat unseren Geist betäubt, sodass die Katastrophen an uns wie auf einer Twitterwall vorbeiziehen, ohne uns zu erreichen. Wir sind willenlos, weil jede Entscheidung falsch erscheint, und tatenlos, weil in der Nacht kein Ziel auszumachen ist, niemand die Hand reicht und nirgends ein Anfang ist. Nicht nur mir ist es Nacht. Die nächtlichen Wälder sind eng geworden und stehen gedrängt zwischen den leuchtenden Städten, in denen die Nacht verewigt wird und tausend trügerische Lichter leuchten. Harmlose Leuchtdioden und tödliche Sprengstoffgürtel. Der Tag mag nah sein, wenn die Nacht am dunkelsten ist, doch es wird ja nicht mehr richtig dunkel. Und so wird Stoizismus zu einer letzten Tugend. Umnachtet leben, bis man den Menschen findet, mit dem man die Lust des Seins teilen kann.