Schweigen

Fragmente über die Sprache

Ich wünschte, wir würden schweigen.
Wenigstens für einen Tag.
Ein Tag des Schweigens, um uns zu reinigen.

Die Mönche waren große Schweiger, bis die Reformation ihr Schweigegelübde brach und Glaubensartikel mit einer Geschwätzigkeit an den Mann brachte, die uns heute noch die Ohren klingeln lässt. Die Reformatoren haben die Reklame erfunden. Lucas Cranach war nicht nur Maler. Er betrieb auch einen Verlag mit Druckereien, in denen er die Prospekte der Reformation, vor allem Luthers Predigten, auf billigem Papier druckte. Sie überschwemmten das Land und spülten die Ablasszettel der römisch-katholischen Kirche in die Sickergruben der Geschichte.

Wir machen uns von der Lüge einen falschen Begriff. Eine Lüge kann uns täuschen, aber nicht verderben. Denn sonst würde sich keine Entrüstung einstellen, wenn eine Lüge entlarvt wurde. Der kalte Schmerz der Enttäuschung, der mit der Entrüstung einhergeht, lässt uns fühlen, wie etwas Ursprüngliches in uns leidet; unser Glaube an eine Wahrheit.

Was uns verdirbt, sind die unreinen Worte. Die Worte der Werbung und der Nachrichten, die wir einatmen, weil wir glauben, es sei der Sauerstoff, den wir zum Leben brauchen. Dabei pumpt jeder Atemzug Feinstaub in unsere Lungen, der sie von innen zerfrisst.

Wie der Flaneur, der geschickt den schmutzigen Pfützen auf dem Trottoir ausweicht, vermeiden wir mit schlafwandlerischer Sicherheit die Worte der Werbung. Wir überspringen mit unseren Augen die Werbebotschaften, die unsere Wege verstellen. Wir weichen ihnen aus, wie dem bösen Blick. Ihre Aufdringlichkeit verrät ihre Absichten. Wie Bettler hängen sie sich an unsere Rockzipfel und greifen in unsere Taschen. Sie sind uns lästig und wir wollen sie abschütteln.

Wenn wir aber hinter der erniedrigten Kreatur des Bettlers die Menschheit erblicken, überfällt uns sofort die Scham. Mit ein paar Münzen kaufen wir uns von ihr frei. Was aber tun wir, wenn wir hinter den erniedrigten Worten auf den Plakaten der Werbung die Sprache erkennen, die uns zu Menschen macht? Kaufen wir uns auch von dieser Scham frei, indem wir etwas kaufen, was wir gar nicht brauchen? Wirkt Werbung verkaufsfördernd, weil uns die Kapitulation vor ihren Bildern und Worten von der brennenden Scham über die Entweihung der Sprache erlöst?

Es gibt eine Liturgie der Werbung, von der sie vorgibt abzuweichen. Die Kreativität der Werbung besteht darin, das Ritual zu erfüllen, indem sie es nicht befolgt. Die Werbung huldigt ihrem Fetisch, indem sie ihn hinter einer gewitzten Phrase und einem imaginierten Kundennutzen verbirgt. Dabei stellt sie sich sehr ungeschickt an, sodass wir Absicht fühlen und verstimmt sind. Deshalb versucht sie ihr Ungeschick hinter anderem zu verbergen. Sie bricht aus den Anzeigen, Plakaten und Reklamespots aus, um in der Maske des Reporters oder des Influencers zu sprechen.

Jede Liturgie verbirgt eine Leerstelle.

Die unreinen Worte der Werbung sind wie der Kot der Straße, den wir an unserer Türschwelle abstreifen. Das macht die Werbung in jeder Verkleidung so harmlos wie den Bettler, der es auf unsere Pfennige abgesehen hat. Und an dieser Harmlosigkeit ändert sich auch nichts, wenn sie uns wie ein Hausierer bis an die Schwelle unserer Haustür und darüber hinaus verfolgt.

Gefährlicher sind die unreinen Worte der Politik und ihrer Ausrufer in den Redaktionen. Sie lesen ihre Messen auf Latein, damit das dumme Volk die Leere ihrer Phrasen für Zaubersprüche hält. Sie wollen uns glauben lassen, ihr Reden sei das natürliche Geräusch, das sie bei der Arbeit machen. So wie das Kreischen der Säge den Nutzen des Handwerkers in die Welt hinausschreit, so soll das Geklingel ihrer Worte den Wert ihrer Politik verbürgen.

Die Politik zersetzt die Semantik der Sprache. Die Semantik ist aber das Gerüst, auf dem das Argument steht, um seine Wirkung in der demokratischen Öffentlichkeit zu entfalten. Indem die Politik die Semantik untergräbt, zerstört sie die Leiter, auf der das Argument die Mauern erklimmen kann, hinter denen sich die Politik verschanzt.

Die Politik ist das Gift, das den öffentlichen Diskurs lähmt, und gleichzeitig die Droge, die ihn berauscht. Und die Talkshow ist das Hochamt dieses lähmenden Rausches.

Wir wollen eine neue Politik formulieren. Aber von der Formulierung zur Formel sind es nur sechs Buchstaben, die der politische Alltag in Windeseile fortschwemmt. Alles endet über kurz oder lang in einer Formel, die gebetsmühlenartig wie ein Werbeslogan repetiert wird.

Die Semantik bindet die Sprache ans Leben. Wenn sich diese Bindung löst, findet unser Leben keinen Ausdruck mehr. Wir fallen aus der Sprache heraus.

Nicht das Lexikon, sondern die Macht verbürgt die Semantik der Sprache. Sie entscheidet, wessen Leben keinen Ausdruck findet, wer aus der Sprache herausfällt. Am groß geschriebenen Binnen-I oder dem Gender-Sternchen in die Sprache hineinklettern zu wollen, ist der hölzerne und formelhafte Versuch, durch Verfremdung Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das gelang dem Großen Dada weitaus eleganter und humorvoller.

Eine Formel ist beliebig erweiterbar. Und durch die Addition von Null bleibt das Ergebnis gleich. In Stellenanzeigen wird immer noch nach einem Ingenieur und einer Arzthelferin gesucht. Durch Anhängen der Formel (m/w) oder neuerdings (m/w/d) wird die abmahnbare Formulierung gesetzeskonform.

Ohne die Sprache wären wir wie das Tier in bedeutungsvollen Situationen gefangen. Dank der Sprache können wir aus der chaotischen Mannigfaltigkeit einer Situation einzelne Bedeutungen entbinden und in Symbolen bannen. Über Symbole können wir frei verfügen. Wir können sie einzeln betrachten oder mit anderen zu neuen Symbolen kombinieren. Wir können sie aber auch zerlegen und in ihrem Inneren neue Symbole finden. Die Emanzipation, die mit der Sprache einhergeht, führt jedoch dazu, dass wir uns in einen Bedeutungskokon aus Symbolen einspinnen und so von der Wirklichkeit, auf die sich die Symbole beziehen, abkapseln. Nicht die Lüge entfremdet uns den ursprünglichen Phänomenen, sondern die Sprache selbst.

Die Vorstellungskraft kann den Kokon der Sprache sprengen. Wenn sie aber nicht mehr ausreicht, weil wir abstumpften und gleichgültig wurden oder weil wir uns weigern, den Kokon zu verlassen, hilft nur noch der Schock. Das Foto eines im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingskindes war ein solcher Schock. Es zerriss den Kokon der Sprache, sodass die Wirklichkeit für einen kurzen Moment in den Diskurs der Politik einbrechen konnte. Ob der Schock wirklich heilsam ist, muss jedoch bezweifelt werden. Jedes Bild ist selbst Symbol und damit ein nützlicher Faden im Kokon des politischen Diskurses. Die Inanspruchnahme eines solchen Bildes für politische Zwecke wirkt deshalb auch sofort obszön. Und für Menschen, die aufgrund ihrer Vorstellungskraft mitleiden, ist das Bild eine seelische Belastung, die im schlimmsten Fall das traumatische Gefühl der Ohnmacht zurücklässt.

Wie wir es auch drehen und wenden: wir haben uns in dem Netz der Sprache, das uns vor dem Absturz in die Aphasie bewahrt, hoffnungslos verfangen. Und da sich dank der sozialen Medien mittlerweile alle an den öffentlichen Diskursen beteiligen können, strampelt jeder – ob Wutbürger oder Gutmensch – fleißig mit, um das Gespinst der Sprache immer enger zu ziehen. Die geistige Bewegungsfreiheit des Einzelnen wird dadurch immer kleiner. Mit einem Tag des Schweigens könnten wir die Ruhe zurückgewinnen, die notwendig ist, um uns aus diesem Schlamassel wieder zu befreien.