Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose

Ein solcher Satz kann nur jemandem einfallen, der vor lauter Namen die Rosen nicht mehr sieht. Das, was die vier aneinander gereihten Buchstaben R o s e bezeichnen, ist eine ganze Welt. Von dieser Tatsache kann sich jeder überzeugen, indem er in einen Garten geht, Augen, Riechorgan und Tastsinn öffnet und den Begriff ›Rose‹ in Düfte, Farben, Formen und kleine Schmerzen an den Fingerkuppen auflöst. Ein solches Rosenerlebnis nimmt alle Sinne gefangen und erzeugt in unserem Gehirn ein wahres Feuerwerk an Wahrnehmungs- und Bewusstseinsimpulsen. Millionen Synapsen feuern, was das Zeug hält.

Empfindsame Menschen benötigen aber lediglich das kleine Wörtchen ›Rose‹, um einen Abglanz dieses Erlebnisses in sich wachzurufen. Die Fähigkeit unseres Gehirns, den Bewusstseins- und Erlebnisinhalt ›Rose‹ in einem kurzen Wort zu destillieren, ist ein genialer Handstreich der Natur. Aus einem komplexen Erlebnis wird ein speichersparendes Wort, dass man auch im Winter bei sich tragen kann, wenn nirgendwo eine blühende Rose zu finden ist.

Doch Gewohnheit stumpft ab und so sinkt ein emotional reiches Wort mit der Zeit herab zu einem bloßen Lexikoneintrag. Wir verstehen zwar noch das Wort, aber wir erleben nicht mehr die Farbenpracht, den Duft und den Stich. Diesen Verlust gleichen die Dichter aus, die Hymnen und Poeme gewaltigen Ausmaßes schaffen, um damit eigentlich nichts anderes zu sagen als eben: Rose. Und gute Dichter werden zu diesem Zweck nicht nur ein Reimlexikon, sondern auch eine Rose zur Hand nehmen.

Doch neben den Begriffen, wie ›Rose‹, ›Tal‹ und ›Aue‹, die wir leicht mit der Wirklichkeit vergleichen können, gibt es zahllose Worte, bei denen dies so gut wie unmöglich ist. Solange es sich dabei um Begriffe wie ›Atomspaltung‹, ›Lichtgeschwindigkeit‹ oder ›Umlaufrendite‹ handelt, können wir es den Dichtern der Natur- und der Volkswirtschaftslehre überlassen, uns von diesen Schönheiten zu singen.

Gefährlich und uns alle betreffend wird es jedoch bei Begriffen, wie ›der Deutsche‹ oder ›der Pole‹, von Heines Polinnen mal ganz zu schweigen. Hier bewegen wir uns in einem sprachlichen Minenfeld, das weder leicht zu entschärfen ist, noch so ohne Weiteres umgangen werden kann. Unser seelisches Gleichgewicht bzw. unsere Fähigkeit zu denken, basiert nämlich zu einem großen Teil auf der Annahme, dass sich bestimmte Dinge nicht verändern, und eine Rose immer eine Rose bleibt. Bei Menschen liegt die Sachlage nun aber ganz anders. Ich bin abends schon nicht mehr der, der morgens mit dem rechten oder falschen Fuß aufgestanden ist. Wie muss sich da ein Mensch erst im Laufe seines Lebens und Völker, so es sie überhaupt gibt, im Laufe ihrer Geschichte verändern? Was bei einer Rose schon phantasielos ist, wird auf Menschen bezogen zu gefährlichem Stumpfsinn: wir können eben nicht sagen: ein Deutscher ist ein Deutscher ist ein Deutscher. Vorurteile entstehen in und durch Sprache. Und so kann man sie wohl auch nur in und durch die Sprache bekämpfen. Auch hier ist der Dichter gefragt, der die starren Worte erschüttert und das Falsche und Feste in Fluss und in die Wahrheit bringt. Während die Lyrik die Dinge aus ihren Worthülsen heraus schält, schafft es die Erzählung die verfestigten Worte in Bewegung zu bringen. Die Wirklichkeit ist Bewegung, panta rhei, Worte sind Sedimente, versteinerte Abdrücke, aufbewahrter Zeitfluss. Die Erzählung bringt die in den Worten gefangene Zeit wieder in Bewegung. Und damit diese Sudelei nicht zu trocken wird, hier noch ein anschauliches Experiment. Lehnt euch vor dem Monitor einmal entspannt zurück und denkt an einen besonders langen leidenschaftlichen Kuss. Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss? Philosophengeschwätz! – Solingen 22. Januar 1999