Tolle Kollekte

Revolutionäres Jobkonzept holt die Arbeitslosen von der Straße

Wenn die geheimen Pläne der Bundesregierung, die mir aus gewöhnlich völlig falsch unterrichteten Kreisen zugespielt wurden, verwirklicht würden, könnte Gerhard Schröder sein Wahlkampfversprechen, die Arbeitslosigkeit zu senken, doch noch halten. Aus dem Bundesverkehrsministerium sickerte schon vor einigen Tagen das Gerücht in unsere Wohnstuben, dass selbst Bundesminister Stolpe, dem wie seinem Vorgänger Bodewig bisher kein Sachverstand nachzuweisen war, nicht mehr daran glaubt, dass das von DaimlerChrysler und der Telekom in den Sand gesetzte LKW-Maut-System jemals über das Stadium einer verunglückten Designstudie hinauskommen wird.

Nun soll man sogar im bisher völlig unbekannten inneren Führungszirkel des Verkehrsministeriums nach alternativen Lösungen Ausschau halten. Da man den Schweizern und Österreichern, die mit sehr viel weniger Geld ein gut funktionierendes System für ihre Straßen installiert haben, den Triumph nicht gönnt, diese Systeme, die so simpel sind, dass deutsche Ingenieure nie darauf gekommen wären, für deutsche Autobahnen zu übernehmen, kommen diese Lösungen nicht in Frage. Immerhin ist der Begriff ›Autobahn‹ neben dem Wort ›Kindergarten‹ das einzige deutsche Fremdwort, das die Amerikaner mit großer Begeisterung benutzen. Das in den USA verbalisierte und wieder zurück substantivierte ›autobahning‹ ist nämlich der ewig unerfüllbare Traum der Amerikaner von einer Straße ohne Tempolimit.

Weil man also deutsche Autobahnen nicht durch ein österreichisches oder Schweizer System entweihen wollte, orientiert man sich im Bundesverkehrsministerium an den Ideen des letzten Reichskanzlers und ersten und letzten Führers des deutschen Volkes, dem man bis heute zu Gute hält, dass er die Arbeitslosen von der Straße geholt und auf der Autobahn abgesetzt hat. Ein Konsortium aus ›Essen auf Rädern‹, der Arbeiterwohlfahrt und den beiden großen Kirchen haben ein Unternehmen mit dem Namen ›Tolle Kollekte‹ gegründet. Die Gesellschaft fungiert als Holding für 100.000 Ich-AGs, die im Auftrag der Bundesregierung ab 2004 auf deutschen Autobahnraststätten und Standstreifen die LKW-Maut in bar kassieren sollen. Ebenso wie das von der Technik überforderte Konsortium aus DaimlerChrysler und Deutscher Telekom sollen die Ich-AGs und ehemaligen Arbeitslosen fast 22 Prozent der Maut selbst einstreichen dürfen. Dies wäre ein monatlicher Verdienst von durchschnittlich 500 EUR, der den Ich-AGs selbstverständlich von der Arbeitslosenhilfe abgezogen würde. Sozialpolitiker fordern aber schon, die gesamte LKW-Maut den ICH-AGs zufließen zu lassen, was einen monatlichen Durchschnittsverdienst von 2333 EUR ergäbe und die Arbeitslosenversicherung um ein Vielfaches der erwarteten Mauteinnahmen von jährlich 2,8 Mrd. EUR entlasten würde.

Aufgrund der milliardenschweren Vertragsstrafen, die das Vorzeigeunternehmen Toll Collect hoffentlich in den nächsten 12 Jahren an die Bundeskasse zahlen muss, dürfte die Anschubfinanzierung für das Unternehmen ›Tolle Kollekte‹ bereits gesichert sein. Wolfgang Clement hat aber bereits gefordert, die Subventionen nach und nach zurückzufahren und in die heimische, also nordrhein-westfälische Braunkohle zu investieren. Finanzminister Eichel ist sicher, dank der Ich-AGs auf deutschen Autobahnen, die Stabilitätskritieren für den Euro im nächsten Jahr locker zu erfüllen. Doch wo viel Sonne ist, ist auch viel Schatten. Die Telekom will wegen des Toll Collect Desasters die Grundgebühren anheben, und ein Sprecher von DaimlerChrysler kündigte an, dass — Autobahning hin, Autobahning her — die neue S-Klasse ab sofort ohne eingebaute Vorfahrt ausgeliefert würde. – Solingen den 19. September 2003