»Ich bin doch auch ein Hitlerjude!« Witze im 3. Reich

»Die Kinder wollen mit dem Judenjungen Herz in Ohligs nicht mehr spielen. Der Kleine sagt: ›Ach, spielt doch wieder mit mir, ich bin doch auch ein Hitlerjude.‹« – diese Anekdote hat meine Tante, Annegret Wolf, geb. Hasecke, vermutlich im Jahr 1947 zusammen mit rund 140 Witzen aus der Nazizeit in einem DIN-A5-Schreibheft aufgeschrieben. Über fünfzig Jahre lang schlummerte das Heft in einer Schublade, bis es nach ihrem Tod bei der Auflösung ihrer Wohnung wieder auftauchte.

Für mich war das Heft ein kleines Schatzkästchen. Witze, vor allem Flüsterwitze, werden in der Regel nicht aufgeschrieben und tradiert. Sie gehen für kurze Zeit von Mund zu Mund, bis sie nicht mehr aktuell sind, anderen Witzen Platz machen und vergessen werden. Es ist deshalb schwierig, die Witze einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren. Man ist auf private Erinnerungen und Tagebücher angewiesen. Selbst ein so emsiger Tagebuchschreiber wie Victor Klemperer hat gerade einmal ein oder zwei Dutzend Witze in der Nazizeit notiert.

Dass meine Tante so viele Witze aufgeschrieben hat, empfand ich als Glücksfall. Sie hat diese Witze auch sehr bewusst aufgeschrieben. Das Heft macht den Eindruck einer Reinschrift. Sie hat die Witze und Anekdoten vor der Niederschrift chronologisch geordnet. Ob sie die Texte bereits in der Nazizeit notiert hat oder all diese Witze ihr im Gedächtnis geblieben sind, kann ich nicht sagen. Aber sie hat sich offensichtlich genau überlegt, in welcher Form sie die flüchtigen Witze aus der Hitlerzeit für die Nachwelt aufbewahren möchte. Sie scheint ihre Umgebung mit wachem Geist und viel Aufmerksamkeit beobachtet zu haben.

Annegret war bei der Machtergreifung Hitlers zehn Jahre alt. Sie erlebte den Kriegsbeginn mit 16 und den Zusammenbruch des Dritten Reiches mit 22 Jahren. Was sind das für Witze, die sie als junge Frau nach dem Krieg fein säuberlich aufschrieb und für die Nachwelt bewahrte?

Vor allem über Goebbels und Göring wurden im Dritten Reich viele Witze gemacht. Zielscheibe des Humors waren außerdem nationalsozialistische Institutionen wie die Deutsche Arbeitsfront, in der alle Arbeiter und Angestellten zwangsweise organisiert waren, oder das Winterhilfswerk, das von den Volksgenossen immer wieder ›freiwillige‹ Spenden einforderte. Die Sammlung enthält aber nicht nur regimekritische Flüsterwitze. Meine Tante sammelte auch Witze über Deutschlands Kriegsgegner oder über Mussolini und die verbündeten Italiener. Antisemitische Witze findet man nur ganz vereinzelt. Später, als die alliierten Luftangriffe zunehmen, sind viele Witze von einem immer stärkeren Galgenhumor geprägt. Nach dem Zusammenbruch richtet sich der Spott dann auch gegen ehemalige Nazis, die von nichts gewusst haben wollen.

Als ich mir Gedanken über eine Veröffentlichung der Sammlung machte, war mir schnell klar, dass ich dem heutigen Leser zwar nicht die Witze selbst, aber die politischen Hintergründe erklären müsste. Viele Protagonisten aus der zweiten Reihe des Dritten Reichs sind heute nur Historikern oder dem interessierten Laien bekannt. Das Gleiche dürfte für viele Institutionen gelten. Und schließlich nehmen einige Witze Bezug auf bestimmte Ereignisse, die heute den wenigsten Lesern präsent sein dürften.

Meine Arbeit an dem Buch bestand hauptsächlich darin, mich in einen unbedarften Leser hinein zu versetzen und ihm die Informationen zum historischen Hintergrund zu geben, die er benötigt, um die Witze zu verstehen.

Die ersten Kritiken geben mir die Hoffnung, dass ich das einigermaßen geschafft habe. So schreibt Kathrin Bolte in ihrem Bücherblog:

»Dieses Buch darf aber nicht als Witzebuch missverstanden werden. Es ist viel mehr. (…) Jeder Witz, jede Anekdote ist mit einer Erläuterung der näheren Umstände dieser Zeit versehen. (…) Es bringt dem Leser die Zeit des Kriegs und der Judenverfolgung auf humorvolle Art und Weise nahe und zeigt einmal mehr, wie sich die Menschen in dieser Zeit gefühlt haben.«1

Literatur

Bolte, Kathrin: Mein Buchregal: Buchtipp „Ich bin doch auch ein Hitlerjude“. 2013. Internet: http://mein-buchregal-im.blogspot.de/2013/01/buchtipp-ich-bin-doch-auch-ein.html. Zuletzt geprüft am: 12.2.2013.

Fußnoten


  1. Bolte, Kathrin: Mein Buchregal: Buchtipp „Ich bin doch auch ein Hitlerjude“. 2013. Internet: http://mein-buchregal-im.blogspot.de/2013/01/buchtipp-ich-bin-doch-auch-ein.html. Zuletzt geprüft am: 12.2.2013. ↩︎