Über die Reise nach Jerusalem

Heute gönne ich mir etwas Werbung in eigener Sache und schreibe über Viktor, den Helden in meinem Roman ›Die Reise nach Jerusalem‹. Viktor registriert die Welt von einem sehr egozentrischen Punkt aus. Sein Wahrnehmen überwindet oft in ihm das Lebendige, das Lebende, das Leidende, das Teilnehmende, als würde Wahrnehmung Teilnahme ausschließen. Er ist in mehrfacher Hinsicht von der Teilnahme ausgeschlossen. Als nachgeborenen Deutschen trifft ihn der Fluch der späten Geburt. Er ist in eine Zeit hineingeboren, in der es nicht darum geht, teilzunehmen oder sich zu widersetzen, sondern in der man mühelos mit schwimmen kann. Die deutsche Geschichte ist ihm wie jedem Nachgeborenen äußerlich, sie begegnet ihm nur in der intellektuellen Sphäre und wird beliebig. Er kann sich mit Tätern und Opfern gleichermaßen identifizieren, oder vielmehr: ihm ist jede wahre Identifikation mit einer der beiden Seiten versperrt. Das Hören und Erzählen von Geschichten wird für ihn zu einer Ersatzidentifikation.

Die Liebeserlebnisse Viktors verharren auf einer elementaren Ebene. Eine teilnehmende Haltung zu den Frauen nimmt er nicht ein, er kann es nicht. Die Teilnahme muss erst als Katastrophe hereinbrechen. Doch gleichzeitig ist die Katastrophe, Alines Krankheit, für Viktor das Fanal eines Nichtmehr-teilnehmen-Könnens.

Dieser Teilnahme an Alines Sterben folgt die Flucht, vor Aline, ganz besonders aber auch vor Isabelle, die als Rätsel zurückbleibt. Rona ist nicht nur eine üppigere Inkarnation Alines, sie ist eine Wiederholung. Wie Aline ist Rona eine Urlaubsbekanntschaft, Rona lebt in einem Land, dass er bald wieder verlassen wird und vielleicht nie wieder betreten wird. Die Flüchtigkeit ihrer Beziehung ist für beide von Anfang an klar. Diese Oberflächlichkeit bietet ihnen Sicherheit, in der sie es sich bequem einrichten könnten.

Wahr ist aber auch Folgendes: keiner der drei (Er, Aline, Rona) hat einen Ort an den er/sie gehört. Er ist der heimatlose Reisende, der für den Leser nur als oberflächlicher Flaneur auftritt. Aline, in seelischer Elternlosigkeit aufgewachsen, hat nur ihre Großmutter, die auf dem Land lebt und nun tot ist. Rona lebt bei ihrem Großvater, weil ihre Mutter nach Deutschland gefahren ist und scheinbar dort bleiben will. Die Figuren des Romans verharren in einer Position vor dem Sprung: alle – ausnahmslos. Das Leben ergreifen bedeutete sich dem Tode zu ergeben, zu altern, die Lebensalter zu durchschreiten, reif zu werden.

In dem Spiel ›Die Reise nach Jerusalem‹ scheidet immer der Mitspieler aus, der keinen Stuhl erhaschen kann, wenn die Musik aufhört zu spielen. Wer erfahren will, ob Viktor einen Stuhl erwischt oder ausscheidet, kann den Roman online im Sudelbuch oder als Buch lesen. – Solingen, 30. Juni 1998