Politiker im Haifischbecken
Gestern fielen zehn Menschen in ein Haifischbecken. Es handelte sich dabei um eine Gruppe von Sponsoren, die das ›Aquarium of the Americas‹ in New Orleans besichtigten. Sie standen auf einer Brücke über dem Becken, von der aus die Haifische gefüttert werden, als diese brach und die zehn Sponsoren, darunter auch ein zweijähriges Sponsorenkind, kopfüber unter die Haifische fielen, die jedoch keinerlei Anstalten machten, über die plötzliche Bereicherung ihres Speiseplans herzufallen. Vielmehr flüchteten die Haie Hals über Kopf in die hinterste Ecke ihres Beckens und waren froh, dass ihnen keiner der Sponsoren zu nah kam. Wussten die Haifische, dass es nicht ratsam ist, die Hand zu beißen, die einen füttert? Oder haben die zwanzig strampelnden Beine und zehn kreischenden Münder die Haie dermaßen erschreckt, dass sie am liebsten ihr Becken verlassen hätten, wenn sie denn gewusst hätten wohin. Wie dem auch sei. Alle Besucher wurden unverletzt aus dem Becken gezogen. Über seelische oder körperliche Verletzungen der Haifische ist nichts bekannt.
Die Haifische in New Orleans genießen meine volle Sympathie. Denn ich fühle mich seit Wochen wie einer von ihnen. Jedesmal, wenn via Fernsehen ein Politiker in unser Wohnzimmer platscht, flüchte ich mich in die Küche, um die Bierflaschen im Kühlschrank zu sortieren, oder ins Schlafzimmer, um mich, Gadamers Hermeneutik lesend, wieder zu beruhigen. Früher bin ich mit Schimpfworten, die ich aus juristischen Gründen hier nicht wiederholen möchte, über die telegenen Fratzen so mancher Politiker hergefallen, wie hungrige Haie über blutige Fleischfetzen. Nun wusste ich zwar, dass Kohl und Konsorten mich nicht hören konnten, aber die Politikerbeschimpfung im heimischen Wohnzimmer war mir immer ein großes Fest.
Die Wut im Bauch ist verflogen. Kein Wunder, denn Verbrecher, die Millionen an Schwarzgeld hin- und herschieben oder sich von Müllbaronen bestechen lassen, sucht man heutzutage vergeblich. Der Gipfel der Skandale ist momentan ein Miles&More-Flug nach Thailand oder Kuba. Da ist keine kriminelle Energie mehr am Werk, sondern bloß noch die kaltschnäuzige Nutzung von Privilegien. Abertausend Geschäftsreisende machen es nicht anders.
Nun stehen die Chancen zwar nicht schlecht, dass mit einem Bundeskanzler Stoiber die Skandale wieder Kohlsche Ausmaße annehmen, aber der Stotterer macht den Eindruck, dass er die Namen illegaler Spender irgendwann ausplappern würde. Da lohnt es sich nicht, zuzubeißen.
Wir Wähler, die wir alle vier Jahre zu Haifischen werden, sind in diesem Jahr dermaßen übersättigt vom bonusmedialen Fast-Food, dass wir uns von den in unsere Wohnzimmer purzelnden Politikern angeekelt abwenden, anstatt sie mit einem Kreuzchen an der richtigen Stelle in der Luft zu zerreißen.
Dieses Verhalten ist jedoch durchaus vernünftig, denn so wie die Haifische in New Orleans ohne Sponsoren verhungern müssten, so würde man uns, fräßen wir unsere Politiker auf, hinterher Leute wie Schill auftischen. Und fragen Sie mal die Hamburger nach ihrem Richter Phrasenreich! Da nehm ich doch lieber mit bekannten Problemen vorlieb und lass die armen Berufspolitiker leben. Das Problematische an dieser Beißhemmung ist jedoch, dass unsere Politiker wie die Sponsoren in New Orleans, dem Haifischbecken unbeschadet wieder entsteigen können. Mit Ausnahme von Özdemir und Gysi, die sich selbst entleibten und Scharping, der von seinesgleichen hingerafft wurde. Und den Verlust einer ihrer Extremitäten hätten sie doch alle verdient, oder? – Solingen den 9. August 2002