Die Welt aus Sicht eines Abderiten

Joschka Fischer kann es im Moment niemandem Recht machen. Die einen wollen ihn steinigen, weil er früher Steine geschmissen und Polizisten verprügelt hat, die anderen wollen ihn verstoßen, weil er seinem amerikanischen Kollegen Colin Powell keinen Molli an den Kopf geworfen und bei der Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, Condolezza Rice, noch nicht einmal verbal zugelangt hat.

Nun wissen wir alle nicht, was Fischer den beiden unter vier Augen gesagt hat, was Fischer aber in der Öffentlichkeit von sich gab, ging ja durch alle Medien. Das allein bringt schon so manchen zum Kochen. Was aber bekennende Pazifisten und Antiamerikaner so richtig zur Weißglut brachte, war das Lob des Ex-Generals Colin Powell, der den Ex-Sponti Fischer einen ›wahren Freund Amerikas‹ nannte und ihn damit für jeden Linken zum Unberührbaren stempelte. Nun muss Joschka Fischer also einen Zweifrontenkrieg bestehen. Von rechts hetzen die vorgestern beschriebenen Giftzwerg-Abderiten und von links zeigen empörte Pazifisten mit dem Finger auf den ›Kriegstreiber‹ Fischer.

Mit besonders langen Fingern zeigt Christoph Schult im Spiegel auf den Außenminister. Unter dem vielsagenden Titel ›Joschka, Garant amerikanischer Interessen‹ offenbart Schult in seinem Kommentar eine Weltsicht, die man wohl als durch und durch abderitisch bezeichnen muss.

›Vorbei ist der Kalte Krieg, in dem Westdeutschland auf Gedeih und Verderb auf den Schutz der Vereinigten Staaten angewiesen war. Vorbei die Zeit, in der die Bundesrepublik auf der Bühne der internationalen Politik nicht mehr als Statist war.‹

Jetzt spielen wir also wieder Großmacht und gehen auch sofort unseren eigenen Weg. Nahtlos sollen wir an unseren alten Wahlspruch anschließen, den wir bloß wegen eines vorübergehenden, teilungsbedingten Schwächeanfalls auf Eis legen mussten: ›Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!‹ Doch Schult verlangt nicht nur, dass wir auf der Weltbühne großmannssüchtig mit der Faust auf den Tisch schlagen. Nein, von den Amerikanern fordert er auch gleich die pflichtschuldige Dankbarkeit dafür, dass wir sie jahrzehntelang vor den Russen geschützt haben.

›Seit der Vollendung der Deutschen Einheit haben sich die Amerikaner kein einziges Mal für die Loyalität der Deutschen revanchiert.‹

Dass man in Deutschland auch heute noch ein solch vollendet abderitisches Denken finden würde, hätte ich nie gedacht. Natürlich hat diese Vorstellung auch ihren Reiz und ihre abderitische Logik. Die Amerikaner sollten uns ewig dankbar sein, dass wir ihrem Drängen nachgegeben und Ostdeutschland trotz der hohen Kosten in die Bundesrepublik aufgenommen haben. Dreimal tief verneigen sollten sie sich, dass wir nur ihnen zuliebe unsere geschätzten Nachbarn Frankreich und England vor den Kopf gestoßen haben, die uns mit aller Macht vom Milliardenabgrund Wiedervereinigung zurückziehen wollten. Wir aber haben keine Kosten und Mühen gescheut, um in einem heroischen Kampf für die NATO den alles entscheidenden Geländegewinn zu erringen und damit dem Warschauer Pakt den Todesstoß zu versetzen. Was aber machen die Amerikaner? Sie drängen uns, wie sich Schult larmoyant beklagt, ihre Bananen, ihr Hormonfleisch und ihre Flugzeuge auf und verurteilen deutsche Staatsbürger reihenweise zum Tode.

Wenn ein Abderit erst einmal zur Feder greift, ist er nicht mehr zu stoppen und so fährt Schult munter fort, uns seine abderitische Weltsicht zu erläutern:

›Gleichzeitig diskreditiert Fischer die Europäische Union. Wenn schon die Briten aus der Staatengemeinschaft ausscheren und mit den Amerikanern gemeinsame Sache machen, sollte der deutsche Außenminister die Franzosen nicht im Regen stehen lassen, sondern ihre kritische Position mindestens stützen.‹

Wenn also der gallische Hahn kräht, weil er mal wieder aufgeregt feststellen muss, dass er weder im Nahen Osten noch in Afrika mehr Weltmacht spielen kann, dann soll der deutsche Gockel mit einstimmen, auch wenn er vorher nicht konsultiert wurde. Das Böse ist nach Schult immer und überall, sogar in der EU, wo die Briten die fünfte Kolonne der USA bilden, mit dem Reich des Bösen gemeinsame Sache machen und deshalb aus der Staatengemeinschaft ausscheren. Solidarität mit den europäischen Briten ist pfui, Corpsgeist mit den Franzosen dagegen hui. Weit her ist es mit der gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik wohl wirklich nicht. Natürlich liegt es nahe, zu vermuten, dass George Bush jun. durch die Luftangriffe auf den Irak in die Fußstapfen seines Vaters George Bush sen. treten will, allein schon um das Versagen seines Vaters aus der Welt zu tilgen. Es mag durchaus sein, dass der stets triumphierende Saddam Hussein zu einer ödipalen Obsession der Familie Bush geworden ist. Aber man sollte sich dann auch einmal fragen, warum die Briten für Bush den Psychotherapeuten spielen.

Zwar schreibt Schult zu Beginn seiner abderitischen Philippika, Colin Powell zitierend, die Welt habe sich enorm verändert, das hindert ihn aber nicht daran, später in den Kategorien des Kalten Krieges zu argumentieren.

›Das Ende des Kalten Krieges bot die einmalige Chance, die Rüstungskontrollen zu verstärken. Stattdessen kündigen die Amerikaner mit ihren Plänen für eine Raketenabwehr den ABM-Vertrag auf, der einst die Rüstungsspirale stoppte, indem er eben solche Technologien der ‘Unverwundbarkeit’ verbot. Doch Joschka Fischer nennt diesen gefährlichen Schritt lapidar eine ‘nationale Entscheidung’ der USA, als ob Europa und Deutschland davon gar nicht betroffen wären, wenn die Russen darauf mit Aufrüstung reagieren.‹

Sollten die Russen wirklich mit Aufrüstung auf die Abwehrpläne der Amerikaner reagieren, dann hat sich in Moskau allerdings tatsächlich nicht viel seit dem Ende des Kalten Krieges verändert.

Obwohl Abderiten die Angewohnheit haben, die Realität immer von einer sehr eigenwilligen Warte aus zu beurteilen, übernimmt Schult hier eine Lesart, wie man sie zurzeit überall in den Medien findet. Dabei liegen die Dinge wohl tatsächlich etwas anders. Gesetzt den Fall, die Amerikaner brächten ein funktionierendes Raketenabwehrsystem zu Stande, so reichten alle aufgestellten Systeme gerade einmal aus, um eine einzige Rakete eines Schurkenstaates auszuschalten. Da es nämlich keine Möglichkeit gibt, einen echten Sprengkopf von einer Attrappe zu unterscheiden, muss jeder Sprengkopf, ob echt oder Attrappe, von einer Abwehrrakete zerstört werden. Und da es nicht allzu schwer ist, eine Rakete mit einem Sprengkopf und einhundert Attrappen auszustatten, müssten die Russen also lediglich zwei Atomraketen abfeuern, um mit ziemlicher Sicherheit eine amerikanische Großstadt auszulöschen. Wenn sie es denn wollten. Die geplante Raketenabwehr kann nach dem heutigen Stand der Technik gar nicht gegen ein Land wie Russland, das über zig Interkontinentalraketen verfügt, gerichtet werden, sondern wendet sich gegen einen Staat, der im Konfliktfall gerade einmal in der Lage wäre, eine einzige atomar, chemisch oder biologisch bestückte Rakete auf die USA abzufeuern. Und genau hier liegt der Hund begraben. Kein US-Präsident wäre in der Lage, eine Militäraktion innenpolitisch durchzusetzen, in deren Folge den USA ein Vergeltungsangriff drohen würde. Der Sinn und Zweck des geplanten Schutzschildes ist es, z. B. gegenüber Staaten wie dem Irak oder gegenüber Terrororganisationen militärisch handlungsfähig zu bleiben, indem man die eigene Bevölkerung vor einem Vergeltungsschlag schützt. Die Frage, die sich Europa, der deutsche Außenminister und wir alle uns stellen müssen, lautet also: Wollen wir das? Wollen wir, dass die USA militärisch handlungsfähig bleiben, oder ist es uns lieber, wenn sie sich aus Angst vor einem Vergeltungsschlag als Weltpolizist zurückziehen. Natürlich gibt es Gründe, Letzteres zu wollen. Es wäre jedoch blauäugig, zu glauben, die Amerikaner würden den Versuch, sich zu schützen, einfach so unterlassen. Ob der Schutzschild jemals funktionieren wird, ist ja bekanntlich noch keineswegs sicher.

Statt diese wichtige Frage einmal zu stellen, läuft Schult gegen Ende seines Kommentars zu rhetorischer Höchstform auf:

›So hat sich Joschka Fischer vom Idealisten einer neuen Weltordnung zum Apologeten amerikanischer Interessenspolitik gewandelt. Und wie jeder Konvertit verteidigt er seinen neuen Glauben vehementer, als selbst Veteranen der transatlantischen Achse wie Hans-Dietrich Genscher es jemals getan haben.‹

Und wie um Schults Schuldspruch zu bestätigen, nennt Colin Powell den armen Joschka in einem Interview dann auch noch einen ›wahren Freund Amerikas‹. Wahrscheinlich ist das alles eine abgekartete Sache zwischen Friedrich Merz und Condoleezza Rice. Umarmung hier, Verleumdung dort und eins, zwei, drei ist Fischer Brei.

Schult wirft dem Auswärtigen Amt Konzeptlosigkeit vor und beklagt, dass die Amerikaner ihre UN-Beiträge nicht zahlen und die Autorität der Weltorganisation unterlaufen. Schult will uns scheinbar einreden, dass der deutsche Außenminister bloß das Credo seiner Partei herunterbeten müsse, damit die USA stante pede ihre Staatsschatulle öffnen, um ihre Schulden zu begleichen, und zu UN-Musterknaben mutieren. Aber in einer Abderitenwelt muss man sich bekanntlich nur ganz fest etwas wünschen, und schon geht es in Erfüllung. Und sollte es wider Erwarten doch nicht klappen, so kann man sich immerhin noch in die Brust werfen und ausrufen: ›Denen hab ich’s aber gegeben!‹

Leider verrät uns Schult sein außenpolitisches Konzept nicht, so dass wir mit unseren zahllosen Fragen allein bleiben. Eine Frage, die ich besonders interessant finde, lautet: Da die USA ja nicht allein aus Regierungsmitgliedern bestehen, muss man wohl oder übel die amerikanische Öffentlichkeit davon überzeugen, UN-Beiträge zu zahlen und sich UN-konform zu verhalten, will man, dass Träume wahr werden. Wie aber macht man das? Reicht es, als Außenminister grüne Parteitagsbeschlüsse in amerikanische Mikrophone zu bellen? Oder muss man hier dickere Bretter bohren? Und mit welchem Konzept schmiedet man aus dem nationalen Hühnerhaufen, in dem gallische Hähne, britische Puten und deutsche Gockel munter durcheinander gackern, eine gemeinsame europäische Außenpolitik? Und wollen wir das überhaupt? Vielleicht käme auf europäischer Ebene grüne Programmatik dann noch weniger zum Zuge? Und auch im Osten tun sich Fragen auf. Wie und warum wollen wir die Russen einbinden, die Gerhard Schröder gerade ein europäisches Pendant zum amerikanischen Raketenabwehrsystem vorgeschlagen haben? Fragen, die Christoph Schult nicht nur nicht beantwortet, sondern noch nicht einmal stellt.

Sein Kommentar endet daher auch nicht bei unserer durchaus fragwürdigen Außenpolitik, sondern bei den Grünen, um die sich Schult große Sorgen macht, vergraule Joschka Fischer mit seinem Schmusekurs doch noch den letzten grünen Wähler. Nun tut Schult zwar sein Bestes, um die Rolle des Vergraulers zu spielen, solange sich aber Deutschlands Verbraucher bei einer grünen Verbraucherministerin besser aufgehoben fühlen als bei einem schwarzen oder roten Bauernpräsidenten, sehe ich die Gefahr der Marginalisierung zunächst gebannt.

Und mit seinem letzten Bonmot offenbart Schult dann sein ganzes Politikverständnis. Politik ist für ihn nicht die Kunst des Machbaren, sondern einer der vielen Wege zur Selbstverwirklichung oder Selbstverleugnung. Letzteren muss dann wohl Fischer eingeschlagen haben.

›Vielleicht bewahrheitet sich jetzt, was der Friedensforscher Ekkehart Krippendorf schon vor zwei Jahren bemerkte. »Wenn Joschka Fischer das ‘Grüne Projekt’ ernster genommen hätte als sich selbst«, spottete er, »hätte Joschka Fischer gar nicht Außenminister werden können«.‹

Und da Kritik an Fischer heutzutage so wohlfeil ist, will ich auch noch einen draufsetzen. Nie war eine offene und öffentliche Diskussion über die Ziele und Methoden der deutschen und europäischen Außenpolitik so notwendig wie heute. Fischer jedoch scheint, wenn überhaupt, diese Dinge lieber im kleinen Kreis diskutieren zu wollen. Auch wenn es sehr riskant ist, die besonders sensiblen außenpolitischen Themen in einer Medienöffentlichkeit zu diskutieren, die nur an Schlagzeilen, vordergründigen Sensationen und abderitischen Einsichten interessiert ist – die Zeiten der Geheimdiplomatie sollten endgültig vorbei sein. – Solingen den 23. Februar 2001