juh’s Neujahrsansprache

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es geht nicht an, dass es für den ersten Tag des angeblich letzten Jahres des Jahrtausends keine Sudelei geben soll. Kubrick-Fans wissen es zwar besser, aber die Welt feiert schon in einem Jahr das neue Millennium.

Apropos Millennium: Schröder und Clement konnten es sich natürlich nicht verkneifen, ihrer banalen Neujahrsansprache durch Anspielungen auf das neue Jahrhundert einen Anstrich des Historischen zu geben.

So weit ich das beurteilen kann, werden wir in einem Jahr ein noch nie da gewesenes Verkehrschaos erleben, da die ganze westliche Welt in einem gewaltigen Rückfall ins Nomadentum aufbrechen wird, um Silvester 1999 in Bethlehem, im Petersdom, auf dem Eiffelturm, auf dem Empire State Building, auf dem Mount Everest, am Südpol oder im Flugzeug zu verbringen, um über die Zeitgrenzen hinweg düsend auf das neue Jahrtausend sozusagen in Permanenz anstoßen zu können. Wenn dann auch noch der Y2K-Bug die Stromnetze der Metropolen, die Flugsicherung, die Deutsche Bahn und die Festbeleuchtung im Petersdom abschaltet, dann wird wahrscheinlich das Ende des Tourismuszeitalters von Hand eingeläutet werden müssen.

Als kleiner Junge habe ich mir unter dem Jahr 1999 wunders was vorgestellt und als jugendlicher Liebhaber glaubte ich, nie und nimmer ein solch biblisches Alter erreichen zu können, um Silvester 1999 in einer Badewanne voll mit Champagner der finalen Libido frönen zu können.

Heute erscheint mir der ganze Rummel so unwirklich wie eine Geisterbahn auf eben diesem Rummelplatz. Jahrtausendwende? – Das ich nicht lache! Die Juden z. B. sind uns schon 3760 Jahre voraus. Und der Islam befindet sich mit dem Jahre 1419 noch fast im finsteren Mittelalter. Als gute Jakobiner hätten wir auf das Jahr 207 anstoßen sollen. Wogegen nüchterne Astronomen heute den 2451180. Tag nach dem 1. Januar 4713 v. Chr. begehen. Und die Mayas würden, wenn sie nicht untergegangen wären, heute den etwas kryptischen 12.19.5.14.15 bzw. in der Tzolkin-Zeitrechnung den 8. Men und in der Haab-Zeitrechnung den 8. Kankin feiern. Alle werden für ihre Zeitrechnung gute Gründe anführen können. Und für Christen, so es sie denn noch gibt, mag die Geburt ihres ersten Vorsitzenden ja auch ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Menschheit gewesen sein. Obwohl sie nicht den Tag seiner Geburt als Anfang nehmen, sondern eine Woche warten, um Neujahr zu feiern, was vielleicht mit seiner Beschneidung zu tun hat.

Allen Kalendern haftet jedenfalls solange etwas Beliebiges an, bis unsere Naturwissenschaftler den Tag und die Stunde des Urknalls mit Sicherheit bestimmen können. Bis es aber so weit mit unseren Forschern gekommen ist, können wir uns ja nach einem wirklich epochalen Ereignis umsehen, das als absoluter Nullpunkt unsere Kalender kalibrieren könnte. Und da ich allen Sekten und Kirchen abhold bin und auch nicht in Eurozentrismus verfallen möchte, finde ich nur zwei Daten, die für die gesamte Menschheit ein neues Zeitalter einläuteten. Und das ist entweder der 6. August 1945 (für Anhänger einer apokalyptischen Geschichtsphilosophie) oder (für Fortschrittsgläubige) der 21. Juli 1969. Somit hätten wir also heute den 10757. Tag nach dem kleinen Schritt für einen Menschen oder den 19507. Tag nach Hiroshima.

Ich gebe zu: auch diese Kalenderjustierung ist beliebig. Man könnte genauso gut die Erfindung des Rades, des Schwarzpulvers oder die Geburt des Missing Links als Anfang nehmen.

Doch ich bin sicher, dass sämtliche Wirtschaftsverbände Sturm laufen würden, wenn so kurz vor dem Jahrtausendschlussverkauf jemand auf die Idee käme, den Kalender zu reformieren. Deshalb bleibt alles beim Alten. Wir aber haben kein Jahr mehr Zeit, um uns zu überlegen, wie wir in ein Jahrtausend gehen, tanzen oder kriechen wollen, das wir mit Sicherheit nicht überleben werden.

Und weil dies so ist und weil jeder Kalender sich irgendwann in Schall und Rauch auflöst, schreibe ich diese Sudelei auch nicht Neujahr, sondern zwei Tage später. – Solingen 3. Januar 1999