Praktische Anwendung von Teil 2

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

Das ist immer noch die Frage, die im virtuellen Raum des Internets steht. Doch alle Theorie ist grau, und nichts hat wirklichen Wert, wenn es sich nicht in der Praxis bewährt. Wie steht es nun aber mit der gestrigen Erkenntnis, dass wir unseren Entscheidungen immer hinterher hinken?

Hat dieser wissenschaftliche Durchbruch nicht immense Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft? Wer kann noch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden, wenn man sich einer bewussten Entscheidung erst dann bewusst wird, wenn sie bereits gefallen ist?

Die katholische Kirche hat es in ihrer tausendjährigen Weisheit immer gewusst: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Wie oft jammert doch der Angeklagte vor Gericht, er habe nicht gewusst, was er tat, er habe nicht gewollt, was er tat, er sei außer sich gewesen, nicht Herr seiner selbst. Nun wissen wir, auch die Richter fällen ihre Urteile im Rausch.

Besonders schlimm ist es mit der Sprache, die uns so leicht von den Lippen geht. Wie schnell ist da etwas gesagt, was der Sprecher gar nicht über die Zunge lassen wollte, was er womöglich noch nicht einmal verstanden hat. Da ist es nicht einzusehen, dass man für Worte, die man selbst nie in den Mund genommen hätte, vor Gericht Rede und Antwort stehen soll. Ich war es doch nicht, der ›du A…‹ gesagt hat, das ist mir nur so rausgerutscht. Bevor ich ›A…‹ sagen konnte, war es schon geschehen.

Aufklärung tut Not. Denn man kann sich viel Ärger ersparen, wenn man das Wissen der Neurophysiologie zur Kenntnis nimmt.

Der Satz mit den ›blühenden Landschaften im Osten‹ zum Beispiel. Wir sollten endlich aufhören, den Mann für diesen Unsinn in die Pflicht zu nehmen. Auch das Gehirn eines Bundeskanzlers denkt schwerfällig den eigenen Worten hinterher. Vielleicht wollte er etwas ganz anderes sagen. Vielleicht auch gar nichts. Und das fällt den trainierten Stimmbändern eines Politikers besonders schwer. Eine bewusste Wählertäuschung kann es nicht gewesen sein, das wissen wir nun.

Apropos ›wählen‹. Vor dem Hintergrund der Hirnforschung fällt auch auf die Bundestagswahl ein neues Licht. Wie kann man eine Wahlentscheidung anerkennen, die nachweislich in geistiger Umnachtung getätigt wird. Das Kreuz ist gemacht und die Wahl vorbei, bevor uns überhaupt nur bewusst wird, den Kuli angefasst zu haben.

Und dieses Sudelbuch hier! Davon möchte ich mich ausdrücklich distanzieren. Ich bin immer wieder überrascht darüber, was ich hier so zusammensudele. – Solingen 9. Juli 1998