Die neue Sprache der Erinnerung

Die FAZ hatte heute ihren großen Tag. Sie konnte stolz das Protokoll eines ›klärenden‹ Gesprächs zwischen Ignatz Bubis und Martin Walser in den ehrwürdigen Räumen der Zeitung in ganzer Breite abdrucken. Außer Walser und Bubis waren anwesend die Herren Salomon Korn, Mitglied des Zentralrats der Juden, und Frank Schirrmacher, Mitglied der FAZ-Redaktion.

Was wurde in diesem Gespräch geklärt? – Zweierlei:

Walser glaubt, dass die Hauptursache dafür, dass 32 Prozent der jungen Männer in Sachsen-Anhalt die ausländerfeindliche DVU gewählt haben, die Arbeitslosigkeit sei. Er fragt sich nicht, wie diese Wähler zu der Erkenntnis gekommen sind, dass es ausgerechnet die 1,5 Prozent Ausländer in Sachsen-Anhalt sind, die den Deutschen so viele Arbeitsplätze wegnehmen.

Walser wurde ziemlich kalt erwischt, als er provozierend fragte, wie viele Deutsche denn überhaupt von der Nationalzeitung, die seine Rede missbraucht, repräsentiert würden. Als Bubis, Korn und Schirrmacher ihn darüber informierten, dass 15% der Deutschen so denken wie die Nationalzeitung, war er baff. Vielleicht ging er in diesem Moment auch noch einmal die tausend Briefe durch, die ihm die Befreiten geschrieben haben und überschlug, wie viele Befreite wohl den Tag der Befreiung Schenkel klopfend in dem von Bubis befürchteten Sinne gefeiert haben.

Aber Walser besteht darauf, dass seine Rede nicht missverstanden worden ist.

»Sie müssen mir nicht anbieten, daß ich mißverstanden worden bin, denn das kann ich als Schriftsteller nicht ertragen. Die Mehrheit hat mich richtig verstanden. Entschuldigung. Ich laß’ mir das nicht nehmen.«

Möglicherweise kann er da nicht über den Schatten seiner empfindlichen Schriftstellerehre springen. Möglicherweise meint er aber doch alles ernst und wurde auch von denen richtig verstanden, die in der Paulskirche aufsprangen und ihm stehend applaudierten. Und da es sich bei den geladenen Gästen in der Paulskirche nicht um glatzköpfige Schläger, sondern um die Spitzen von Staat und Gesellschaft handelte, kann man Bubis Erschrecken gut verstehen.

Walser wollte befreien:

»Diese befreiende Wirkung heißt: Unser Gewissen ist unser Gewissen und das lassen wir uns von anderen nicht vorschreiben.«

Welches Gewissen meint Walser eigentlich? Sein eigenes? Das deutsche Nationalgewissen? Mein Gewissen und das von Millionen Deutschen, die nach 1945 geboren wurden, kann er nicht gemeint haben. Denn mein Gewissen ist, was Auschwitz betrifft, unbelastet, da ich nicht die Gelegenheit hatte, Juden zu ermorden und dieses Bedürfnis auch heute nicht verspüre. Wessen Gewissen wird also durch Holocaustbilder im Fernsehen belastet? Höchstens das der greisen Täter. Und vielleicht das derjenigen, die gerne dabei gewesen wären. Will Walser deren Gewissen befreien?

Walser beklagt, dass Deutschland als Straftäter auf Bewährung behandelt würde. Und dass er sich nicht mit Bubis treffen wollte, weil der ihn – durch seinen Vorwurf, geistiger Brandstifter zu sein, ebenfalls nur auf Bewährung empfangen würde. Lassen wir Walsers Empfindlichkeit mal beiseite. Deutschland ein Straftäter auf Bewährung? Aber was ist daran außergewöhnlich? Betrachten wir z. B. Russland nicht ebenfalls als Demokratie auf Bewährung? Würde denn 50 Jahre Demokratie die Schuld abwaschen?

Walser soll in ›Unser Auschwitz‹ gesagt haben, die ganze Nation sei für Auschwitz verantwortlich. Dann wieder will er ›diesen Generalvorwurf‹ nicht mehr hören. Ja was denn nun? Was für ein Nationalverständnis hat Walser denn überhaupt? Gehören die getöteten Juden für Walser auch zur deutschen Nation? Waren die dann auch für Auschwitz verantwortlich? Der Begriff der Nation wirkt, wenn Walser ihn benutzt, vollends greisenhaft.

Man rettete sich schließlich auf die Formel, dass man eine neue Sprache der Erinnerung finden müsse.

Walser : Die Mehrheit der Deutschen – natürlich würde man kritisch sagen, das sei die schweigende Mehrheit – hat die gemeinsame Sprache noch nicht gefunden.

Bubis: Warum haben Sie das nicht gesagt?

Walser: Ich habe den Übelstand festgestellt, indem ich gesagt habe: Einschüchterungsroutine. Ich habe gesagt: Instrumentalisierung, Einschüchterung, Moralkeule, Lippengebet.

Bubis: Wenn noch ein Satz dabei gewesen wäre.

Walser: Wie wäre der?

Bubis: Wir müssen einen Weg finden für ein gemeinsames Erinnern. Wenn noch dieser Satz im Text gestanden hätte, dann wäre alles ganz anders. Eine ganz andere Wirkung.

Walser: Diesen Satz hat Bundespräsident Herzog beigesteuert. Und zwar, Herr Bubis, weil ich meine Rede gehalten habe.

Das ist Dialektik! Der Mann würde sich noch vom Schafott herunterargumentieren!

Nun gut: Dann muss eben eine neue Sprache her, wenn man sich in der alten nicht mehr anständig ausdrücken kann. Und dieses Projekt ist ja auch viel aufregender als klares Deutsch zu reden. Und so schreibt Schirrmacher ganz enthusiasmiert im FAZ-Kommentar.

»Walser ist im Begriff, diese Sprache zu buchstabieren; niemand kann sagen, was sich am Ende aus all diesen Bemühungen als Text zusammensetzt und ob es uns gefällt oder auch nur angemessen ist. Aber Walser geht diesen Weg, und ehe sich eine repräsentative Öffentlichkeit wegduckt vor den Zumutungen dieser Sprachbemühung, sollte sie sich fragen, ob man dem Schriftsteller nicht dankbar sein muß und ob die Angst, mißverstanden zu werden, nicht das besorgniserregendste Symptom der deutschen Verhältnisse ist. Offensichtlich schwebt Walser ein kollektiver Verständigungsprozeß vor, der unterirdisch die Routinen durchbricht und Auschwitz wieder zu einer Angelegenheit, und das kann nur heißen: zu einer Verstörung, des eigenen Gewissens macht.«

Vermutlich hat die FAZ ein anderes Gespräch abgedruckt als das, auf welches sich Schirrmacher bezieht, denn erstens scheint mir dies überhaupt nicht offensichtlich zu sein und zweitens behüte uns der Himmel vor einer Erinnerungssprache à la Walser. Wenn Walser das wirklich wollte, was ihm Schirrmacher unterstellt und auf das sich Bubis aus Höflichkeit oder Vorsicht eingelassen hat, dann hätte er wahrlich eine andere Rede halten sollen.

Eine neue Sprache also. Nun gut. Ich habe auch schon einen konkreten Vorschlag für den ersten Satz in dieser neuen Sprache. Ein Satz, der mit völliger Selbstverständlichkeit ausgesprochen werden muss. Es ist der Satz eines Nachrichtensprechers, der lautet: Heute hat die Bundesversammlung erwartungsgemäß mit großer Mehrheit Ignatz Bubis zum Bundespräsidenten gewählt. – Das Wetter. – Solingen den 15. Dezember 1998