Die Kostenlos-Kultur verwandelt Menschen in Nutztiere

Deutschland – ein Gemeinwesen macht Platte

In der kürzlich veröffentlichten Allensbach-Umfrage Generation Mitte 2018 bezeichnen fast zwei Drittel der Befragten den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land als schwach oder sehr schwach. Die Generation Mitte rekrutiert sich nach den Statistikern aus den 30- bis 59-jährigen.

Dieses Stimmungsbild ist nach den Zerstörungen, die der Neoliberalismus in unserem Land spätestens seit der Machtübernahme Kohls angerichtet hat, keine Überraschung. Was mich wundert, ist, dass man den Neoliberalismus noch nicht als Ursache unserer Probleme ausgemacht hat. Selbst diejenigen, die ihn kritisieren, springen oft viel zu kurz. Dabei reicht ein Blick zurück in die Zeit, als die Älteren in der Generation Mitte noch Kinder waren, um das ganze Ausmaß der Verheerungen zu erahnen.

Eine gewaltige Lawine von Privatisierungen, die bereits die sozialliberale Koalition in den 70ern einläutete, hat in den letzten 40 Jahren das Gemeinschaftseigentum in Deutschland marginalisiert und unvorstellbare Vermögenswerte in den Besitz internationaler Hedgefonds gespült. Die Älteren aus der Generation Mitte sind noch in einem Land aufgewachsen, in dem der gesamte öffentliche Verkehr mit seinen riesigen Liegenschaften, die gesamte Telekommunikation, das gesamte Postwesen inklusive der Postbank im Eigentum der öffentlichen Hand war. Ein Großteil meiner Generation ist noch in einer Wohnung aufgewachsen, die einer Kommune, einer landeseigenen Entwicklungsgesellschaften oder in der DDR einem Volkseigenen Betrieb gehörte. Wenn wir ernstlich krank waren, wurden wir in einer Klinik behandelt, die der Stadt, dem Land oder einer Kirche aber ganz gewiss nicht einem gewinnorientierten Konzern gehörte. Strom und Gas bezogen wir von staatlichen Unternehmen. Und wenn wir in ein Flugzeug stiegen, war es in der Regel die Maschine einer staatlichen Airline wie der Deutschen Lufthansa.

Natürlich musste man auch damals für alle Leistungen bezahlen. Den Eltern der heutigen Generation Mitte wurde nichts geschenkt. Aber jeder Pfennig, den man fürs Wohnen, fürs Zugfahren oder fürs Telefonieren ausgab, kam der öffentlichen Hand zugute und floss in eine gemeinsame Kasse. Paketzusteller waren damals keine prekär Beschäftigten ohne jede Sicherheit, sondern rundum abgesicherte Beamte mit Pensionsansprüchen.

Man mag über Beamte denken, was man will, aber wenn ein Großteil des Vermögens öffentliches Eigentum ist und das Bruttoinlandsprodukt noch Bruttosozialprodukt heißt – dann ist die soziale Sicherheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt schlicht und einfach größer als in einem Land, in dem fast alle Tarifverträge und sozialen Sicherungssysteme weggebrochen sind und die Reichen mit logarithmisch wachsender Geschwindigkeit immer reicher werden. Wenn jemand über unser Gemeinwesen hergefallen ist und es bis auf die Knochen abgenagt hat, dann waren es die neoliberalen Heuschrecken in den Investment-Funds, die Schmidt, Kohl und Genscher ins Land gelassen haben – und nicht die bedauernswerten Flüchtlinge aus Syrien.

Die Regierungen der letzten 50 Jahre haben unser Land an Investmentfonds verschleudert. Während die Umverteilung von unten nach oben langsam in den Blick der Öffentlichkeit gerät, wird der Vandalismus der Privatisierung, die Umverteilung gigantischer Vermögenswerte von der öffentlichen in die private Hand immer noch weitgehend übersehen. Das Problembewusstsein wächst langsam und sporadisch. Erst vor kurzem entdeckten die Medien etwas völlig Unerwartetes. Man kann nicht mehrere Millionen kommunale, betriebliche und landeseigene Wohnungen an Immobilienkonzerne verkaufen, ohne dass innerhalb weniger Jahre die Mieten explodieren.

Unser Gemeinwesen gleicht nach 40 Jahren Neoliberalismus dem Obdachlosen auf der Straße, der sein gesamtes Vermögen verloren hat. Ein solcher Staat kann seine Bürger nicht mehr schützen.

Die verhängnisvolle Startup- und Kostenlos-Kultur

Die Digitalisierung hat den Turbokapitalismus hervorgebracht und die neoliberalistische Ausbeutung massiv beschleunigt. Innerhalb weniger Jahre wurden aus kleinen Garagenfirmen globale IT-Giganten, die unser Leben rund um die Uhr beherrschen. Die Startup-Kultur ist unsere Leitkultur. Sie wiederholt sämtliche Mythen des amerikanischen Traums, in denen Digital Natives in digitale Welten aufbrechen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Und wie die Pioniere im Wilden Westen die Prärien einzäunten, so verwandeln die Startups die Internet-Allmende in private Viehweiden. Mit kostenlosen Dienste locken sie Millionen Nutzer an und machen sie abhängig von ihren Technologien. Statt die Nutzer der Dienste zur Kasse zu bitten, melken sie Daten aus ihnen heraus, die sie anschließend zu Geld machen. Die Kostenlos-Kultur verwandelt Menschen in Nutztiere.

Heute schaut der Digital Native in den Spiegel und sieht eine Milchkuh. Das verstimmt. Und so regt sich endlich verhaltener Widerstand gegen die Einhegung des Internets. Da die meisten Menschen auf die bequemen Dienste der IT-Konzerne nicht verzichten möchten, versucht man alternative Plattformen aufzubauen, die mehr oder weniger den gleichen angeblichen Nutzen bieten, aber aufgrund ihrer technischen Realisation die Privatsphäre der Nutzer weniger stark verletzen und auch keine neuen IT-Giganten aufblasen sollen. Das Menschenbild der eingehegten Milchkuh wird dabei selten in Frage gestellt.

Wer mag heute noch hinterfragen, ob Facebook bestehende Bedürfnisse befriedigt oder erst neue erzeugt. Die schiere Wucht des Erfolges, den Plattformen wie Facebook, Twitter oder Google haben, verschafft diesen Social-Media-Bedürfnissen in einer neoliberalistischen Welt, in der ohnehin nur der kommerzielle Erfolg zählt, eine Berechtigung, die niemand wagt, ernsthaft in Frage zu stellen.

Die Macher der alternativen, dezentralen Systeme programmieren natürlich keine Kopien der kommerziellen Plattformen, aber ihre kritische Kreativität ist auf Details begrenzt. So ist es in Mastodon, der dezentralen Twitter-Alternative, nicht möglich, Nachrichten kommentiert weiterzuverbreiten, da der Entwickler der Software der Meinung ist, dass man Meinungen, die man nicht teilt, eben auch nicht teilen sollte.

Die schöpferische Kreativität der Programmierer braucht ein gewisses Maß an Naivität, da ansonsten vermutlich gar keine alternativen Systeme entwickelt würden. Das bedeutet aber nicht, dass man diese Naivität nicht benennen und von der Kritik an der Plattform-Ökonomie ausnehmen sollte. Das Gegenteil ist notwendig. Die meisten alternativen Softwareprojekte haben überhaupt kein kritisches Bewusstsein für die sozioökonomischen Strukturen, in denen sich die großen Plattformen entwickeln konnten. Plattformen wie Facebook und Twitter sind eben nicht aus dem Nichts entstanden. Ihr explosives Wachstum wurde vom explosiven Wachstum des internationalen Finanzkapitals angetrieben, das wie eine Lawine in die Märkte drängt und investiert werden will. Das Finanzkapital konnte sich im Neoliberalismus vollständig vom realen Wirtschaftswachstum abgekoppeln und reproduziert sich nach Gesetzen, die alle Grenzen des Wachstum sprengen. Seine schier unbegrenzte Verfügbarkeit bläst eine Blase nach der anderen auf.

Die Plattform-Ökonomie lebt einzig und allein von der Vorstellung, dass sich nahezu jede Plattform immer weiter aufblähen lässt, indem man immer mehr Kühe gewinnt und immer weitere Dienste kostenlos anbietet, um noch mehr Rindvieh anzulocken. Die Plattformen können dabei Jahre lang mit Verlusten arbeiten und Kapital jenseits aller Vorstellungskraft verbrennen.

Die Programmierer von Open-Source-Software und die Betreiber von dezentralen Netzwerken kopieren nun das Vorgehen der Kapitalvernichter und bieten ihre Plattformen ebenfalls kostenlos an, obwohl sie gar nicht der Lage wären, ein auch nur annähernd vergleichbares Wachstum zu finanzieren.

Sie suchen die Lösung dieses Problems in der Dezentralisierung. Es muss angeblich niemand für die Kosten der technischen Infrastruktur aufkommen, da sich – in der Vorstellung der dezentralen Naiven – ganz sicher Millionen Einzelpersonen finden werden, die einen kleinen Server finanzieren und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Die Kosten werden so lange dezentralisiert, bis sie scheinbar gegen Null gehen. Diese Grenzwert-gegen-Null-Strategie ist natürlich eine Milchmädchenrechnung.

Bei drei Milliarden Nutzern wäre ein soziales Netz aus Millionen kleinen Servern genau so teuer wie das heutige Facebook. Es könnte sich jedoch niemals durch die Ausbeutung von Daten refinanzieren. Wer also soll dann für ein dezentrales Facebook zahlen? Die meisten Projekte machen sich darüber nie Gedanken.

Ein kleines Team von Programmierern kann sich problemlos durch Betteln finanzieren, denn schließlich hat der Plattformkapitalismus auch für eine Digitalisierung des Bettelns gesorgt. Heute muss keiner buchstäblich auf der Straße stehen und den Hut aufhalten. Digitale Plattformen wie Patreon oder Liberapay machen aus dem Plattemachen angesagtes Hipstertum. Der Protest hat es sich im globalen Kapitalismus sehr bequem gemacht.

Aber beim ersten wirklich großen Wachstumsschub skaliert diese Form der Finanzierung nicht mehr. Denn die Zahl der Almosengeber nimmt nicht proportional mit der Zahl der Nutzer zu. Das dezentrale Netz ist nicht bloß temporär prekär finanziert, sondern grundsätzlich. Tragisch ist, dass diese schlichte Tatsache den Nutzern, Betreibern und Entwicklern der dezentralen Plattformen oft gar nicht bewusst ist.

Wie absurd das Fediverse und ähnliche Infrastrukturen sind, erkennt man sofort, wenn man sich vorstellt, dass sich der öffentliche Nahverkehr allein durch Spenden finanzieren müsste. Das funktioniert nicht einmal dann, wenn jeder sein eigenes kleines Auto besitzt und damit zu vorgeblich niedrigen Grenzwertkosten gegen Null im Straßennetz herumkutschiert. Denn dann brechen irgendwann die Brücken ein.

Wir müssen also über die Finanzierung des Fediverse nachdenken. – Nein, das müssen wir nicht! Geld ist genug da. Wir müssen über etwas anderes sprechen. Die eigentliche Frage lautet: Willst du als Milchkuh leben oder als Mensch? Willst du in einer co-parasitären Einheit mit globalen IT-Konzernen existieren, die statt dein Geld, deine Daten wollen, um ihre Macht immer weiter zu vergrößern? Oder willst du als freier Mensch auf eigenen Füßen stehen und für die Kosten, die du verursachst, auch selbst aufkommen? Soll der Co-Parasitismus der Kostenlos-Kultur im Plattform-Kapitalismus auch das Fediverse befallen?

Digitale Solidarität

Für die Kosten aufkommen, die man verursacht – das hört sich heroischer an, als es ist. Im Grunde müssen wir dafür bloß ein paar Stellschrauben in unserem Verhalten ändern. Und dabei müssen wir nicht einmal Verzicht üben! Wir sollten bloß die richtigen Lehren aus den ersten Absätzen dieses Artikels ziehen. Dort hieß es, dass wir auch früher für alles zahlen mussten, für Wohnen, Strom, Gas, Wasser und ÖPNV – dass damals aber jeder Pfennig in unsere gemeinsame Bürgerkasse floss – denn nichts anderes ist der Staatshaushalt.

Wenn du also heute eine digitale Leistung beziehst, dann überlege dir, ob du die Leistung so beziehen kannst, dass das Geld in eine gemeinsame Kasse fließt. Da es zurzeit keine öffentlichen Anbieter digitaler Leistungen gibt, sind wir bei der Wahl unserer Dienstleister auf Genossenschaften und Vereine beschränkt. Ja, es ist gut, dem Admin seiner Fediverse-Instanz eine Spende zukommen zu lassen. Es ist aber besser, mit anderen zusammen einen Verein zu gründen und diese Leistung als Vereinsmitglied mitzufinanzieren. Wenn du einen Server brauchst, dann miete ihn nicht bei einem Privatunternehmen, sondern bei einem Verein oder einer Genossenschaft, deren Miteigentümer du bist. Wenn du Leistungen von einer Gemeinschaft einkaufst, in der du mitbestimmen kannst, dann füllst du nicht nur die gemeinsame Kasse, aus der immer bessere und – bei entsprechendem Wachstum – immer preisgünstigere Dienstleistungen finanziert werden, du kannst auch über die Verwendung der Gelder mit entscheiden. Dieses Verhalten bezeichne ich als digitale Solidarität. Halte dein Geld in den eigenen Reihen! Hilf mit, kollektive Infrastruktur aufzubauen! Sei digital solidarisch!