Ideologische Verblendung
Wenn man eine Liste erstellen wollte, welche Berührungspunkte man in seinem bisherigen Leben mit den USA hatte, käme man zu keinem Ende. Seit unserer Kindheit haben wir amerikanische Filme und Serien geschaut. Wir wurden täglich mit Nachrichten aus oder über die USA gefüttert. Wir sind durchtränkt mit amerikanischen Bildern, Tönen und Texten, die uns die Kulturindustrie frei Haus geliefert hat. Freunde und Bekannte, oder sogar man selbst, haben die USA besucht, haben an einer der verherrlichten Elite-Universitäten studiert oder sogar im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gearbeitet.
Doch es gibt nicht bloß zahllose äußere Berührungspunkte; wir sind über innere, meist sehr dunkle Kanäle miteinander verbunden. Die USA sind das Produkt des europäischen Imperialismus, der Europa einst zum reichsten und technologisch führenden Kontinent gemacht hat. Und die Vereinigten Staaten setzen diesen Imperialismus fort.
Wir kennen die USA durch und durch. Wir erkennen uns in ihr wieder. Deshalb verzeihen wir dem westlichen Hegemon alles.
Mit China ist das anders. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist uns im Grunde unbekannt. Kaum ein chinesischer Film kam in unsere Kinos, keine chinesische Fernsehserie lief in unseren TV-Kanälen. Wir lasen keine chinesischen Comics und tanzten zu keiner chinesischen Musik. Die wenigen Unternehmensvertreter, die nach China reisten, weil sie Märkte erobern oder billige Lieferanten finden wollten, trugen kaum dazu bei, den Schleier tiefer Ignoranz zu lüften.
Wir nahmen den wirtschaftlichen Aufstieg des sozialistischen Landes ungläubig zur Kenntnis und beantworteten alle Fragen, die er stellte, mit der einfachen Antwort: die kopieren ja bloß unsere Produkte.
Die Volksrepublik China war und ist einfach ein weiteres kommunistisches Land irgendwo im Fernen Osten, über das man bis heute die üblichen, antikommunistischen Erzählungen verbreitet, die man auch über die Sowjetunion und den Ostblock erzählte. Wenn wir China überhaupt zur Kenntnis nehmen, sehen wir das Land durch die Brille dieser antikommunistischen Erzählungen. Sie grundieren jede Berichterstattung und verdecken alles, was nicht in das Raster passt.
Diese doppelte Verblendung hindert Europa daran, eine eigene Rolle in der Welt zu finden. Als antikommunistischer Wurmfortsatz der USA nimmt uns niemand ernst, nicht einmal mehr die USA.
Wenn unsere öffentlich-rechtlichen Medien ihren Bildungsauftrag ernst nähmen, würden sie anfangen, chinesische Filme und Serien zu synchronisieren. Sie würden Journalisten ins Land schicken, die in das komplexe politische System eintauchen würden, um uns einmal etwas Neues über China zu erzählen. Sie würden ein Bild zeichnen, das nicht gleich vom antikommunistischen Pinselstrich verdorben ist. Sie würden aufhören, Chinas Jahrtausende alte Kultur für exotisierende Terra-X-Sendungen auszubeuten, um in den Nachrichten ungeniert antikommunistische Meldungen zu verbreiten und vor der wirtschaftlichen Expansion Chinas zu warnen.
Die US-Kulturindustrie hat uns über einhundert Jahre in ihrer Brühwürfel-Suppe weichgekocht; das schüttelt man nicht einfach ab. Das beherrscht noch heute unser viel zu mildes Urteil über den faschistischen Staatsstreich der Milliardärs-Oligarchie in den USA. Eine Revidierung dieser ideologischen Verblendung hätte Folgen für unser Selbstbildnis, weshalb wir sie lieber hinauszögern und versuchen, uns in unseren Widersprüchen bequem einzurichten. In einer sich dramatisch verändernden Welt ist dies aber das beste Rezept für einen schnellen Untergang.
Wir sollten uns ehrlich machen und damit beginnen, die wirtschaftliche Großmacht des 21. Jahrhunderts, den Technologieführer der Zukunft und das einzige Land, in dem der Sozialismus funktioniert, kennenzulernen.