Xi lesen: Treppe von oben kehren

In der Volksrepublik China wurden in diesem Jahr bereits drei Minister ausgetauscht. Unsere öffentlich-rechtlichen Meinungsmacher rätselraten, ob das nun ein Zeichen für Xi Jinpings Stärke oder für seine Schwäche sei. Im Land des Führerprinzips hat man keinen Begriff für die kollektive Führung im chinesischen Sozialismus. Die Schreiberlinge können nicht anders; sie müssen personalisieren. Da wird orakelt, dass sich die Annahme verhärtet (sic!), dass der gefeuerte Außenminister Qin, als Botschafter in den USA »eine außereheliche Beziehung hatte, aus der ein Kind hervorging.« Beim ehemaligen Verteidigungsminister Li soll Korruption im Spiel gewesen sein.

Ob man damit die Wahrheit trifft, weiß ich nicht. Aber Korruption, im Westen oft als Ausweis von politischer Reife und Durchsetzungsfähigkeit missverstanden, gilt Xi als absolutes No-Go. In seinen Reden vor Parteimitgliedern betont der Generalsekretär der KP Chinas immer wieder, dass man Tiger und Fliegen gleichermaßen bekämpfen wird.

Als westlicher Leser seiner Reden stellt man überrascht fest, dass die moralischen, fachlichen und politischen Anforderungen an das Führungspersonal der KP Chinas extrem hoch sind – und das bereits auf Kreisebene.

»Die Kreisparteisekretäre stehen einer Führungsgruppe vor, und sie sollten beispielhaft den demokratischen Zentralismus praktizieren und es vermeiden, ein ›Monarch‹ zu werden. Sie müssen verfahrensgemäß entscheiden, insbesondere in zentralen Fragen wie Finanzen, Projektausführung und Personalangelegenheiten. Diese müssen kollektiv beraten werden, statt es zuzulassen, dass nur einer das Sagen hat. Die Kreisparteisekretäre sollten sich darauf verstehen, das Fachwissen der Komiteemitglieder, anderer Führungsgruppen und der Kader aller Ebenen gut zu bündeln, arbeitsteilig und doch kooperativ vorzugehen und eine Führungsrolle zu übernehmen, ohne jedoch alles an sich zu reißen. Sie sollten großzügig und tolerant sein, Wert auf die Meinung der anderen Komiteemitglieder legen und im Parteikomitee die Einigkeit fördern und bewahren. Einigkeit und Harmonie dürfen aber natürlich nicht dazu führen, dass um des lieben Friedens willen die eigenen Prinzipien aufgegeben werden. In Grundsatzfragen darf man nicht beschwichtigen, sondern muss korrekte Standpunkte vertreten, eine klare Haltung einnehmen und auch den Mut haben, diese Haltung nach außen deutlich zu verteidigen.«1

Xi kann diesen Anspruch schlüssig begründen. Die KP Chinas hat dem Volk versprochen, den Wohlstand aller Chinesen zu steigern und das Land wieder zu der Blüte zu bringen, die es in früheren Jahrtausenden ununterbrochen entfalten konnte. Wenn das Volk zu dem Schluss kommt, dass dieses Versprechen gebrochen wird, ist die Partei am Ende. Das sagt Xi unverblümt.

»Würde des Zentralkomitee seine Autorität einbüßen, oder hätten die Theorien, der Kurs, die Richtlinien und die Politik der Partei keine Gültigkeit mehr, sodass alle nach ihrem eigenen Willen vorgingen und alles, was sie wollten täten, aber nichts von dem, was sie nicht gern wollten, dann würde die Partei ein loser Bund von Privatclubs nach eigenem Gutdünken sein und die Führung durch die KP Chinas wäre dann nichts anderes als leeres Gerede.«2

Um dieser Gefahr zu entrinnen, soll das Führungspersonal der KP Chinas moralisch tadellos, fachlich der großen Aufgabe gewachsen und politisch absolut zuverlässig sein. Frühstücksdirektoren und Clowns, wie sie in westlichen Demokratien gerade reihenweise an die Macht gewählt werden, haben in der kommunistischen Partei nichts zu suchen. Korruption wird ebenso wenig geduldet wie ein Abweichen von den Beschlüssen des ZK der Partei. Bei gleicher fachlicher Eignung und politischer Linientreue gibt der moralischere Charakter bei Beförderungen den Ausschlag. Diese harte Linie gilt von der Kreisebene an bis hinauf zu den höchsten Posten in Partei und Staat.

»Wenn die Partei die Unterstützung des Volkes gewinnen und das Zentralkomitee seine Autorität aufrechterhalten will, müssen alle Parteimitglieder integer bleiben. […] Die Genossen des Politbüros sollten die Ersten sein, die das, was für die gesamte Partei erforderlich ist, praktizieren. Wir sollten unser Bewusstsein für redliche Amtsführung und Selbstdisziplin schärfen, unsere Rechtschaffenheit durch gesetzeskonforme, richtige und unbestechliche Machtausübung bewahren und Selbstdisziplin üben, indem wir auf Disziplin achten, den Regeln nachkommen sowie unseren Ruf und unsere Integrität wahren. Die Genossen des Politbüros sollten Privilegiendenken und jegliche Begünstigung ablehnen und auch ihre Familienangehörigen, Verwandten und engen Mitarbeiter diesbezüglich in die Pflicht nehmen.«3

Mit dem Sozialkredit-System wurde die moralische Erziehung sogar auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. Die Bertelsmann-Stiftung hat zu diesem Thema eine plakative Infografik gemacht. Was unsere Medien als den totalen Überwachungsstaat brandmarken, ist die chinesische Vision einer ›harmonischen Gesellschaft‹. Ja, eine harmonische Gesellschaft ist tatsächlich eins der Etappenziele der KP Chinas. Und die Social Scoring Systeme werden in China ›im Kontext von Korruption und betrügerischen Geschäftsgebarens als begrüßenswerte Versuche wahrgenommen, Qualitätsstandards zu heben. Viele Chinesinnen und Chinesen halten sie für eine gute Idee.

(Im kapitalistischen Deutschland gibt es mit der Schufa übrigens ebenfalls ein effizientes Sozialkredit-System, das allerdings keine harmonische Gesellschaft anstrebt, sondern die maximale Rendite für Kapitalisten.)

Die Moral der Partei ist Xi wichtig. Die ersten 230 Seiten des zweiten Bandes seiner Reden drehen sich fast ausschließlich um die Verbesserung der Parteiführung und um die Anforderungen, die an Kader zu stellen sind.

»Wir sollten […] Kader streng auf ihre politische und moralische Integrität sowie ihre Unbestechlichkeit prüfen und dafür sorgen, dass nur diejenigen befördert und belohnt werden, die treu, sauber und verantwortungsvoll sind, selbstlos dem Volk dienen und elanvoll, reformfreudig und erfolgreich arbeiten. Außerdem sollten wir Maßnahmen dafür treffen, dass diejenigen Kader keinen Spielraum mehr haben und bestraft werden, die den Beschlüssen der Partei nur mit Worten statt mit Taten nachkommen, schmeichlerisch sind, sich auf Manipulationen einlassen, keine praktische Arbeit verrichten und gern ihre Beziehungen spielen lassen.«4

Man tut vermutlich gut daran, die aktuellen Wechsel in der Führungsriege der Volksrepublik China nicht unter der verengenden Perspektive des personifizierenden Journalismus neoliberaler Prägung zu betrachten. Das Geschehen ist mehr als ein Zeichen für Xis Stärke oder Xis Schwäche. Man könnte es auch so deuten: die Entschlossenheit der Partei, gute Arbeit zu leisten, macht nicht einmal vor den höchsten Kadern halt. In China wird die Treppe offensichtlich von oben gekehrt.


  1. Xi, Jinping: China regieren II. Beijing 2018. S. 175 ↩︎

  2. ebd. S. 23 ↩︎

  3. ebd. S. 233 ↩︎

  4. ebd. S. 220f ↩︎