Zertifizierte Menschen

Ich habe für einen Schriftsteller ein sehr schlechtes Gedächtnis. Was ich den lieben langen Tag erlebt habe, versinkt in ein süßes Vergessen, bevor ich es abends für mich und alle, die es interessieren mag, festhalten kann. Der Mit- und Nachwelt sind so sicher viele überflüssige Reflexionen über langweilige Dinge erspart geblieben. Heute Morgen, als ich am Sozialamt vorbeiging, wo die Fahne auf Halbmast gesetzt war, hatte ich mir aber fest vorgenommen, einen bestimmten Gedankengang, den ich bei meinem Physiotherapeuten hatte, in einer Sudelei festzuhalten. Ich wusste da noch nicht, dass man wegen des überraschenden Todes von Johannes Rau Trauer geflaggt hatte. Wenn mir bewusst gewesen wäre, dass heute in aller Welt der Opfer des Holocausts gedacht wird, hätte ich die Trauerbeflaggung sicher damit in Verbindung gebracht. Aber so, weder von Raus Tod noch von dem UN-Gedenktag wissend, fragte ich mich nur, warum man in Solingen an Mozarts zweihundertundfünfzigsten Geburtstag die Fahnen auf Halbmast setzt.

Wäre ich nicht so intensiv damit beschäftigt gewesen, einen Gedankengang zu behalten, den ich auf einer Packung heißen Moores liegend vor weniger als einer halben Stunde gedacht hatte, die Fahne in eisiger Windstille hätte mich sicher viel tiefer verunsichert. Ein Gefühl der Unruhe hätte mich überfallen und dazu gebracht, Radio zu hören oder im Internet Erkundigungen nach dem Grund der Trauerbeflaggung einzuziehen. Ich aber versuchte mir einen Gedankengang so einzuprägen, dass ich noch am späten Abend in der Lage sein würde, den Faden wieder aufzunehmen und bis zu seinem bitteren Ende in Worte zu weben.

Nach dieser umständlichen Einleitung erwartet der geneigte Leser nun sicher etwas ganz Besonderes. Ich fürchte nur, dass ich diese Erwartung nicht befriedigen kann. Ich lag also, eingehüllt in ein bereits häufig benutztes, aber frisch gewaschenes Betttuch, auf einem heißen mit dunkelbraunem Matsch gefüllten Kissen und öffnete, als die Wärme und damit auch die Entspannung nachließ, die Augen und betrachtete zwei Tafeln mit anatomischen Zeichnungen unserer Muskeln, Knochen und Sehnen, die an der Wand direkt neben mir hingen. Ich suchte und fand die Strecksehne am kleinen Finger. Ihretwegen lag ich hier auf der Liege mit einer Moorpackung unter dem Nacken. Ich hatte mir nämlich den Nacken verrenkt, weil ich mich verhalten hatte. Und das war nur passiert, weil meine linke Hand seit Tagen verbunden und mit einer Gipsschiene ruhig gestellt war. Dies war wiederum nötig geworden, weil ich beim Hochtragen von Getränken aus dem Keller auf der Treppe gestolpert und mich so ungeschickt am Getränkekorb versucht habe abzustützen, dass dieser umstürzte, einige Flaschen zerbrachen und ich mit der Hand in eine Scherbe geriet. Die Wunde musste im Krankenhaus genäht werden. Und da auch die Strecksehne des kleinen Fingers verletzt war, bekam ich am nächsten Tag von einem niedergelassenen Chirurgen einen dicken Verband mit Gipsschiene. An den Unfall dachte ich jedoch nicht, als ich die Augen öffnete und auf der anatomischen Tafel meine Strecksehne suchte. Vielmehr erinnerte ich mich daran, dass meinem Schwager einmal beim Fußballspielen die Achillessehne abgerissen wurde und er, nachdem man sie ihm wieder angenäht hatte, viele Wochen einen Gips tragen musste. Das brachte mich dazu, die Achillessehne zu suchen. Es schien so, dass diese Sehne sehr fest und solide am breiten Fersenknochen befestigt ist. Ich bewunderte einmal mehr die Vorsehung der Natur, die eine Sehne, die ein Leben lang gigantische Kräfte übertragen muss, so zuverlässig an ihrem Knochen befestigt hat. Ich fragte mich, worin diese Befestigung wohl bestehen mag. Auf der Tafel konnte man nicht erkennen, wie die Sehne am Knochen festgemacht ist. Geht sie in den Knochen über? Verwandeln sich Sehnenzellen irgendwann in Knochenzellen? Oder gibt es einen bestimmten Leim, der beides so überaus wirkungsvoll zusammenhält? Ich staunte. Das alles war mir ein völliges Rätsel. Für einen Moment erfreute ich mich an der Vorstellung, dass die Natur etwas zuwege bringt, was wir Menschen nicht besser machen können. Ich erlaubte mir für einige Sekunden den Stolz des aufgeklärten Menschen, der erkannt hat, dass man nicht einfach wie früher die Alchimisten hingehen kann und aus den anorganischen Grundstoffen von Sehnen und Knochen in einem Reagenzglas eine taugliche Sehne an einem richtigen Fuß herstellen kann. Als mein Gedanke sich zu dem trügerischen Triumph verstieg, festzustellen, dass man heute so klug ist, mit den Methoden der Natur die Natur nachzubilden, erkannte ich, dass die moderne Gentechnik in Wirklichkeit Ziele verfolgt, die sich von denen der Alchimisten nicht grundsätzlich unterscheiden. Meine Freude an der Überlegenheit der Natur und der Stolz über unsere heutigen Methoden passten nicht so recht zusammen und lösten sich gegenseitig in Luft auf. Ich verlor in meinen eigenen, sich widersprechenden Gedanken für einen Moment die Orientierung. Um mich zu beruhigen und Zeit zu gewinnen, redete ich mir ein, dass der Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur schon immer und von allen Lebewesen mit jeder nur denk- und einsetzbaren Waffe geführt wurde. Gegen die Angriffe von Bakterien wehrt sich der Mensch seit Jahrzehnten mit Antibiotika. Gegen Viren bringen wir Impfungen in Stellung. Überschreiten wir mit der Gentechnik wirklich eine unsichtbare Grenze? Nein, die Grenze, von deren Existenz ich felsenfest überzeugt war, war unauffindbar. Sehr bald schon werden wir in der Lage sein, die Eigenschaften unseres Nachwuchses zu programmieren. Wir wären dann nicht mehr ein Produkt des Zufalls, zufällig intelligent oder debil, zufällig fettleibig oder schlank, zufällig musikalisch begabt oder bloß zufällig zu sportlichen Höchstleistungen fähig, sondern aufgrund der elterlichen Vorsorge, staatlicher Planung oder gesellschaftlicher Moden. Die Wirtschaft würde sich sicher freuen, wenn sie Mitarbeiter rekrutieren könnte, die genau definierte Eigenschaften haben: strategisch denkende Manager, fleißige Sekretärinnen, penibel arbeitende Verwaltungsangestellte. Sogleich stellte ich mir ein Bewerbungsgespräch vor, in dem der Jobsuchende sehr viel selbstbewusster als heute auftreten könnte: Ich bin ein ISO-zertifizierter Sachbearbeiter für das mittlere Management und erfülle Ihre Anforderungen deshalb garantiert. Schauen Sie in meinen Genpass. Mit Sicherheit werden diese zertifizierten Menschen auch nicht mit einem Getränkekorb in der Hand auf der Treppe stolpern, sich den Hals verrenken und auf einer Moorpackung liegend sich nutzlose Gedanken machen.

Was aber wird man in einer Welt zertifizierter Menschen mit denjenigen machen, die ihre Erbanlagen dem traditionellen Beischlaf und damit dem Würfelspiel des Zufalls verdanken? Würde man sie mit besonderer Aufmerksamkeit betrachten, weil man nie weiß, was aus ihnen wird? Oder werden sie bloß am Rande einer perfekt funktionierenden Welt als Ausgestoßene ein Schattenleben führen? Wird es noch Künstler geben, wenn man alles planen kann? Oder wird immer seltener aus dem schrumpfenden Kreis der Zufallsmenschen eine Künstlerpersönlichkeit erwachsen, die auf noch weniger Verständnis seitens ihrer Mitwelt hoffen darf, als der Künstler in unserer Zufallswelt? Wird man sie nicht irgendwann wie lästiges Ungeziefer zusammentreiben und vernichten?

Als ich auf diese Weise am Todestag von Johannes Rau instinktiv den Holocaust-Gedenktag und den Geburtstag Mozarts gefeiert hatte, war meine Zeit auf dem Moorkissen um. Die Sprechstundenhilfe kam, wickelte mich aus dem Bettzeug und wischte mit ihm meinen Rücken ab, an dem etwas Moorschlamm hängen geblieben war. Und in diesem Moment kam es mir so vor, als würden auch meine Gedanken wie ein modriger Brei an mir herunterhängen, und ich beschloss, sie spätestens am Abend niederschreibend abzuwaschen. – Solingen den 27. Januar 2006