Gegen Grippe ist ein Kraut gewachsen

Gegen Grippe ist ein Kraut gewachsen. Es heißt Lassa und kommt aus Westafrika. Jedenfalls ist dieses Kraut seit einigen Tagen in aller Munde, und die aus England drohende Grippewelle, von der man vorher so viel in allen Zeitungen gelesen hat, ist offensichtlich gebannt.

Lassa ist natürlich keine stinknormale Medizin, dem Kraut wohnt ein Zauber inne, denn es wirkt gegen eine fürchterliche Grippeepidemie auch dann, wenn nur ein einziger Mensch die Naturmedizin eingenommen hat. Voraussetzung ist jedoch, dass es sich dabei um einen jungen Menschen handelt. Die Wirkung von Lassa beruht nämlich auf der Tradition des Opfers. So wie Athen jedes Jahr sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen dem Minotaurus opfern musste, um von der Pest und den Truppen des König Minos’ verschont zu bleiben, so reicht für eine simple Influenza heutzutage schon eine Studentin, um Gefahr für das Gemeinwesen abzuwenden.

Der tiefere Sinn des Opfers ist bekanntlich, sich von dem Unbehagen frei zu machen, das einen befällt, wenn man zu lange in den Spiegel schaut. Dieses naturgemäß unbestimmte Unbehagen kann dank des Opfers benannt und mit dem Magenbitter der medialen Katharsis hinuntergespült werden. In diesem Falle ist es der hemmungslose Tourismus, den man beklagt und den man nicht ohne Grund durch Freudsche Verschreibung leicht mit dem Terrorismus verwechseln kann. Die imperialistische Sucht jeden Ort der Welt durch Pauschalreisen zugänglich zu machen, hat man so lieb gewonnen, dass man sich ungern entwöhnen würde, obwohl man natürlich weiß, dass die Sucht das Objekt der Begierde letztlich zerstören wird. Da kommen Studentinnen gerade recht.

Noch ist der Ariadnefaden nicht gefunden, mit dem die Studentin gerettet werden könnte. Man muss also abwarten. Und erst wenn das Opfer vollzogen ist, sei es mit oder ohne Auferstehung der Studentin, wird man wissen, ob Lassa die englische Grippe wirklich hat bannen können, oder ob alle Schlagzeilen der Medien umsonst waren. – Solingen 14. Januar 2000