Das Sudelbuch macht reich!
Stellen Sie sich vor, liebe Leserin, lieber Leser, das Chaos bräche aus — nicht das kreative Chaos, sondern ein recht böses und schreckliches Durcheinander, in dem alles drunter und drüber geht, alle Werte entwertet werden und das Abendland untergeht und Sie säßen mittendrin und bemerkten nichts! Mit so viel Blindheit geschlagen zu sein, ohne sich einen taubstummen Fels in der Brandung nennen zu können, ist peinlich. Doch genau dies ist seit knapp sechs Jahren mein Schicksal. Ich habe bis heute nicht bemerkt, welche Schwierigkeiten mir die neue Rechtschreibung macht. Ja, schlimmer noch! Seit einigen Tagen dämmert es mir, dass womöglich ich dieses Chaos um mich herum mit verursache und damit als Antichrist und Verderber des von mir so geliebten Abendlandes zu gelten habe. Die Augen geöffnet, haben mir die Bildzeitung und der Spiegel, die wie Proselyten zur alten einzig rechten und wahren Rechtschreibung zurückkehren wollen, weil die neue unser Land in ein Chaos gestürzt hat, dessen abgründige Tiefe nur mit dem Sommerloch vergleichbar ist und dessen unheilschwangere Wirkung sich höchstens mit dem Dreißigjährigen Kriege messen kann.
Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu den romantischen Naturen gehören, die schon immer davon träumten, das Abendland, die Heimat aller Schildbürger und Abderiten zu retten, so sollten Sie das Sudelbuch kaufen und es auf dem Marktplatz Ihrer Heimatstadt des guten Beispiels Willen sofort zerreißen, oder es im Bankschließfach gut verwahren, da es schon in wenigen Jahren eine gesuchte, unbezahlbare Rarität sein kann. Denn jetzt, wo das Deutsche Institut für Sprache und rechtes Schreiben, vormals Bildzeitung und Stefan Aust, die neue Rechtschreibung abschaffen, dürften die beiden durchgängig in neuer Rechtschreibung verfassten Sudelbücher bald einzigartig im Regal des Buchhändlers dastehen, den Altschreibern ein Dorn im Auge und den Sammlern ein Objekt ungezügelter Begierde.
Sie können natürlich auch den Protestbrief der Bildzeitung gegen die Rechtschreibreform unterschreiben und mit stolzgeschwellter Brust an Goethes Grab treten, sich an selbige schlagen und ausrufen: ›Mission accomplished!‹
Exkurs für Ausländer ohne angeborenen Abderismus
Da ich weiß, dass auch Ausländer diese Zeilen lesen, die natürlich die Bedeutung dieses Streits aufgrund ihrer Fremdheit mit allem Abderitischen nicht verstehen können, sehe ich mich zu einem kleinen Exkurs genötigt. Zunächst glaubt man, dass eine Reform, die niemandem an die Tasche geht, in einem Land, in dem Reformen, die allen teuer zu stehen kommen, wie Säue durchs Dorf und Schlag auf Schlag durch die Gremien gejagt werden, kein großes Geschrei hervorrufen sollte. In Deutschland, der Wiege der Duodez-Fürstentümer und des Besserwissens, ist dies natürlich anders. Zwar gehen im Osten die mittlerweile arbeitslosen Helden von Leipzig auf die Straße, um den Lohn ihrer Heldentaten, die lebenslange Arbeitslosenhilfe, zu verteidigen, doch wirklich leidenschaftlich wird die Diskussion erst, wenn es um die Grundsatzfrage geht, ob die Antragsformulare für die neue Sozialhilfe in alter oder neuer Rechtschreibung verfasst sein sollten. Da wie man hört, niemand außer Wolfgang Clement die Hartz-IV-Formulare versteht, müssen wir jetzt stante pede zur alten Rechtschreibung zurückkehren, um ein Scheitern von Hartz IV zu verhindern!
Mit Luther fing das Verhängnis an
Das orthografische Schisma hat, wie alles in Deutschland mit Luther, diesem Verhängnis von Mönch, zu tun. Denn seitdem unser Luther Deutschland durch seine Reformation in einen 30-jährigen Krieg gestürzt hat, ist es in der Heimat der Schildbürger verpönt, des schnöden Mammons wegen zur Pike zu greifen und meuchlings durch die Nacht zu schleichen. Es müssen mindestens Volk, Führer, Vaterland, die rechte Art des Abendmahls oder eben die richtige Rechtschreibung auf dem Spiel stehen. Seit Luther wissen wir auch, dass der tiefere Sinn einer jeden Reformation darin besteht, alles beim Alten zu lassen. So verweigern die Protestanten zwar dem einen Papst in Rom den Gehorsam, doch stattdessen hoben sie gleich einige Dutzend neue Kirchen- und Sektenführer in den Stand der Gnade, um ihnen herdenweise — gottseidank oft nach Amerika — zu folgen. Wahrscheinlich bleibt auch uns Neuschreibern bald keine andere Möglichkeit, als unsere sieben Sachen zu packen und nach Amerika auszuwandern, wo wir dann ungestört die neue Rechtschreibung praktizieren können, ohne als Verderber der Jugend dazustehen.
Das scharfe S und der deutsche Nationalcharakter
Der Nationalcharakter der Deutschen schart sich heute um das scharfe S, wie es einst in Treue fest zum SS stand. Kein Opfer scheint zur Rettung zu groß zu sein. Ja, wenn man die Bildzeitung liest, so gewinnt man den Eindruck, dass die neuen Montagsdemonstranten in Leipzig, stellte man sie vor die Wahl ›Hartz IV oder neue Rechtschreibung!‹ mit nationalem Eifer dem sprachlichen Erbe zuliebe die eigene Armut und damit Hartz IV ergreifen würden. Wer weiß, ob die Verlage mit ihrer Hetze gegen die neue Rechtschreibung nicht in Wirklichkeit dem Kanzler beispringen wollen? Denn wenn Deutschland sich wegen der Rechtschreibung zerfleischt, können Hartz IV und folgende ohne Randale in den Arbeitsämtern umgesetzt werden. Und wenn dann alle 50 Stunden für vollen Lohnabzug arbeiten oder darben müssen, jagen wir den Sündenbock Rechtschreibreform zum Teufel, und alles ist gut. Besteht nicht darin auch ein großer humanistischer Fortschritt, dass die Bildzeitung endlich einen Sündenbock gefunden hat, an dem sie ihren Populismus austoben kann, ohne dass gleich überall im Land Asylbewerberheime brennen?
Da schreibe ich und kann nicht anders!
Normalerweise reformiert man nur im äußersten Notfall, wenn sich zum Beispiel der Papst als Antichrist herausstellt oder die Sozialpolitiker die demografischen Daten nicht mehr schönrechnen können, und man dasteht und wie Luther nicht anders kann, oder wie Schröder keine Alternative sieht. Vor sechs Jahren jedoch, als Deutschland noch unter den Blähungen des Kohlschen Reformstaus litt, reformierte man scheinbar ohne rechte Not die Rechtschreibung. Bloß weil der größere Teil des deutschen Volkes des rechten Schreibens unkundig war, mussten die, die ihre Rechtschreibung gelernt hatten, plötzlich umlernen, was diese selbstverständlich erboste. Was Fritzchen mit Mühen lernte, will Fritz nicht anders schreiben müssen. Natürlich hatte die Reform nicht den erhofften Erfolg, denn wer schon die alte Rechtschreibung nicht beherrschte, war auch unvermögend die neue zu erlernen. Keiner schrieb besser, nur die verhassten Ausländer hatten einen Vorteil, müssen sie jetzt doch nur noch genau hinhören, ob ein Wort lang oder kurz ausgesprochen wird, um zu entscheiden, ob es mit Esszett oder Doppel-S zu schreiben ist.
Der hypokritische Eid
Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als unter dem Namen der Zeitung so kluge Sprüche wie ›Unparteiisch und überparteilich‹ zu lesen waren? Dort wird in Zukunft der neue Hypokritas-Eid der deutschen Journaille prangen: ›In klassischer Rechtschreibung verfasst‹. Dies ist vor allem für Bild unentbehrlich, denn da der durchschnittliche Bildzeitungsleser die neue Rechtschreibung lediglich am doppelten S im ›dass‹ erkennt, Nebensätze aber in Bild aus Rücksicht auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Leser schon im Keim erstickt werden, dürfte das deutsche Volk kaum bemerken, dass die Bildzeitung zur alten Rechtschreibung zurückgekehrt ist, zumal Bild zwar auf der ersten Seite brüllt ›Schluß mit der Schlechtschreib-Reform!‹, die Sportreporter der Bundesliga jedoch vorhalten: ›Genug gequatscht! Lasst endlich Tore sprechen.‹
Wenn Grass die Muse nicht mehr versteht
Das Sommerloch ist tief und die Unterstützung für die Sommerloch-Hatz der Altschreibzeitungen auf die Reform der Reformen, so Bild, riesengroß. Sogar die Chefin vom Suhrkamp-Verlag ›macht sich‹, wie Bild stolz verkündet, ›im Interesse der Literatur für die Rückkehr zur alten Rechtschreibung stark‹. Und sie kann wirklich gute Gründe anführen, ist doch seit der Einführung der neuen Rechtschreibung im Suhrkamp-Verlag kein wirklich bedeutendes Buch erschienen. Der Geist Goethes scheint den deutschen Dichtern zu grollen, seit sie in neuer Rechtschreibung stammeln. Und wie wir wissen, fürchtet selbst ein Nobelpreisträger wie Grass durch die neue Rechtschreibung die Gunst seiner Muse zu verlieren. Und wenn man ihn so wettern hört, muss man glauben, dass er Recht hat.
Die Sorge der Väter
Die Kritiker der neuen Rechtschreibung müssen großartige Menschen sein. Mit väterlicher Sorge sind sie sechs Jahre lang unermüdlich durch die deutschen Schulen gezogen und haben bemerkt, was kein Lehrer bemerkte, die doch sonst alles bemerken, dass nämlich die armen Schüler von der neuen Rechtschreibung so überfordert und verwirrt sind, dass sie bald nicht einmal mehr im Stande sind, die Bildzeitung zu lesen. Vielleicht hätten sie jedoch genauer hinschauen sollen, denn die meisten Fehler unserer Schüler wären nur durch eine noch radikalere Reform auszumerzen.
Mut und Selbsterkenntnis
Döpfner (Springer) und Aust (Spiegel) haben sich nun mit ihrer gemeinsamen Erklärung ein Denkmal gesetzt und ich will an dieser Stelle einmal ihre Offenheit loben. Denn es gehört Mut dazu, in aller Öffentlichkeit festzustellen, dass in ihren Verlagen die Rechtschreibreform ›in der täglichen Erprobung‹ gescheitert sei, dass die ausgewiesensten Sprachkünstler in Deutschland es auch sechs Jahre nach der Reform nicht geschafft haben, erfolgreich auf die neue Rechtschreibung umzustellen. Entweder ziehen Döpfner und Aust ihren Angestellten in den beiden Verlagshäusern die Zeit des Nachschlagens der neuen Schreibweisen im Duden vom Urlaub ab oder die Bildreporter und Spiegelredakteure sind schlicht und einfach zu dumm, in der neuen Rechtschreibung sinnvoll zusammenhängende Artikel zu verfassen, denn anders kann ich mir ein Scheitern in der täglichen Erprobung nicht vorstellen. Bleibt nur eine Frage: Wie will ein Verlag, der es nicht schaffte, auf die neue Rechtschreibung umzustellen, von dieser wieder zur alten zurückkehren?
Für das sich selbst ausgestellte Armutszeugnis aber sollten wir, die wir noch die kulturelle Fertigkeit sowie die Zeit besitzen, im Zweifelsfalle im Duden nachzuschlagen, den Springern und Spieglern Respekt zollen. Denn wer weiß, dass er nichts weiß, der allein ist weise. Womit wir bei Sokrates wären, der bekanntlich Altgriechisch sprach und nicht Neugriechisch. Wer also weise werden will wie Sokrates, der gebe ruhig zu, dass er von der neuen Rechtschreibung nichts wissen und fortan wieder in der alten mehr schlecht als recht schreiben will.
Ich aber bin bekennender Chaot und werde weiterhin in reformiertem Deutsch sudeln. Kaufe also, liebe Leserin, lieber Leser, noch heute das Sudelbuch! Wenn du dann alt bist und ohne Rente dastehst, kannst du es auf ebay als kostbaren Fehldruck zu astronomischen Höchstpreisen versteigern. Drei, zwei, eins deins! – Solingen den 9. August 2004