Die Zwangsbedeutschung oder Sind Rollstuhlfahrer die besseren Menschen?

Diese Frage habe ich mir gestern mehrmals gestellt. Das kam so. Nachmittags klingelte ein ziemlich abgerissener Typ an meiner Wohnungstür und drückte mir einen schmuddeligen Schnellhefter in die Hand. In diesen sudeligen Papieren beklagte sich eine Selbsthilfeorganisation darüber, wie schwer das Leben für Behinderte in Rollstühlen sei und wie teuer die Betreuung eines Behinderten durch den Verein sei. Vorne war ein Papier angeklemmt, auf dem man unterschreiben sollte und auf dem groß und breit stand, dass der Typ da vor mir kein Geld annehmen dürfe.

Sofort setzte bei mir das wohl bekannte Schuldgefühl ein. Erstens weil ich eigentlich gar nichts spenden wollte. Zweitens weil mir der Typ ziemlich unsympathisch war, weshalb ich mich ebenfalls schuldig fühlte. Er sah aus wie einer von diesen Zeitungsdrückern, die dir von ihrem schlimmen Schicksal erzählen, um dir das Goldene Blatt oder sonstwas anzudrehen. Außerdem roch er wie ein Obdachloser.

Ich las mir den Schnellhefter durch, verstand aber nicht den Zweck des Ganzen. Denn es wurde ganz offensichtlich nur die Unterschrift verlangt. Was sollte das? Wie soll der Verein mich kontaktieren, wenn die nur mein Legasthenikerkürzel haben? Sogleich kam mir der Verdacht, das der Typ nur meine Unterschrift wollte, um hinterher Schecks damit fälschen zu können. Und sofort gesellte sich ein weiteres Schuldgefühl hinzu: schließlich soll man ja nicht gleich jeden eines Verbrechens verdächtigen, vor allem, weil der Typ nicht gerade einen intelligenten Eindruck machte. Ich fragte ihn nach einer Karte des Vereins. Die hatte er natürlich nicht dabei. Also wimmelte ich ihn ab. Ich sei selbst gerade knapp bei Kasse. Er nickte und ging.

Erleichtert schloss ich die Tür. Allein mit meinen Schuldgefühlen. Ich schaltete den Fernseher ein, um mich abzulenken. Doch was sah ich? Deutschlands Rollstuhlfahrer Nummer 1: Wolfgang Schäuble, der gerade den Schulterschluss mit der CSU probte. Immer wenn ich ihn sehe, möchte ich fast heimliches CDU-Mitglied werden, nur um meine Schuldgefühle ihm gegenüber loszuwerden, denn ich muss immer an Dr. Seltsam denken, wenn ich ihn sehe.

Es ging um die Ausländerpolitik der CDU/CSU. »Ich weiß nicht, was das mit rechtem Rand zu tun hat, wenn man Deutsch spricht«, sagte Schäuble. Und nun wuchsen meine Schuldgefühle ins Unermessliche. Dazu muss man wissen, dass meine Frau Deutschlehrerin ist und Ausländern die Sprache Goethes und Schillers beibringt, was zurzeit nicht sehr einträglich ist. Als ich nun diese Stammtischidee der CDU/CSU vernahm, hörte ich förmlich schon das Geld in unserer Kasse klingen. Doch während der innere Schweinehund geldgierig lachte, schalt mich mein Gewissen, weil ich von der Not der Ausländer auch noch zu profitieren gedachte.

Ich wollte den Fernseher schon wieder ausstellen, da stellte sich Schäuble auch noch hinter den Vorschlag der CSU, straffällig gewordene Ausländer mit ihrer ganzen Sippe abzuschieben. Und da ging es mir wieder gut. Rollstuhlfahrer sind eben doch nicht per se die besseren Menschen.

Und um die letzten Schuldgefühle loszuwerden, gelobte ich: wenn die Idee mit der Zwangsbedeutschung der Ausländer durchkommt und meine Frau das große Geld macht, werden wir ganz bestimmt den Solinger Rollstuhlfahrern etwas spenden: vielleicht 50 DM, etwa eine Doppelstunde Deutsch. – Solingen 10. Juli 1998