Schriftsteller in Weimar leben gefährlich

Diese Überschrift ist nicht im übertragenen Sinne gemeint. Ich ziele nicht auf den Kritiker, der einen hoffnungsvollen Autor mit den Gesamtausgaben von Goethe, Schiller, Wieland und Herder erschlägt, sondern auf den ostdeutschen Durchschnitts-Skin, der – vermindert steuerungsfähig durch generalstabsmäßigen Alkoholgenuss – auf Schriftsteller eintritt; so er ihnen habhaft werden kann in einem Land, in dem es noch weniger Schriftsteller als Juden gibt.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum Neo-Nazis in Weimar an Führer Goethes Geburtstag die Schriftsteller Bert Papenfuß, Frank Willmann und Guillaume Paoli als ›Judenschweine‹ beschimpft haben, bevor sie versuchten, ihnen das Gehirn aus dem Schädel zu treten. Die drei Schriftsteller saßen nach einer Lesung bei einem Bier im ›Schmalen Handtuch‹ (ja so heißt die Kneipe gegenüber von Goethes Wohnhaus wohl wirklich) und unterhielten sich über den schwarzen, homosexuellen, amerikanischen Autor Harkim Bay: fehlt nur noch, dass der Mann jüdischen Glaubens ist! Die drei Dichter und Denker diskutierten also – lautstark, wie die Tageszeitung DIE WELT bedeutungsvoll hinzusetzt – über eine Person, die in den Augen eines kulturbesessenen Weimarer Bürgers glatzköpfiger Nation als entartet gilt. Da man in Weimar schon seit 1918 demokratische Erfahrung sammeln konnte, ging der Bürger des Freistaats Thüringen hinüber an den Tisch der drei – angetrunkenen Dichter, wie die WELT noch bedeutungsvoller hinzufügt – und äußerte seine wohl durchgekaute, freie Meinung, die in den Worten zusammengefasst werden kann: »Ihr verkommenen Judenhunde und Gesocks!« Die Dichter, mit den demokratischen Bräuchen in Ostdeutschland nicht vertraut, dachten aber gar nicht daran, den diskutierfreudigen Weimarer Bürger an ihren Tisch zu bitten und ihm ein Bier zu spendieren, sondern redeten – lautstark! – weiter über dieses in Weimar unerwünschte Thema.

Als die Schriftsteller dann das Lokal – angetrunken, wie DIE WELT zu vermelden weiß – verließen, wurden sie von weiteren Weimarer Bürgern erwartet und mit Stiefeltritten vom kosmopolitischen Geist Weimars überzeugt.

Warum ich über diesen Vorfall erst heute schreibe, liegt nicht an meiner Faulheit, sondern daran, dass die Weimarer Polizei und die Stadt diesen Vorfall einige Tage – aus ermittlungstechnischen Gründen, wie die WELT wissend hinzufügt – geheim hielt.

Die Empörung, im Allgemeinen verhalten, war beim Schriftstellerverband natürlich groß. Aber Elvira Greiner, die Pressesprecherin der Stadt will nicht einstimmen in greinende Zerknirschung, sondern glaubt standfest daran, dass dies ein Einzelfall sei, womit sie angesichts der geringen Zahl von lebenden Schriftstellern in Weimar wahrscheinlich auch Recht hat. Weimars Gäste, so sie denn nicht schreiben und sich nicht über schwule schreibende Neger unterhalten, seien jedenfalls nicht gefährdet. Aber es sei dennoch ein ›Wermutstropfen in der freudigen Stimmung‹, die in der Kulturhauptstadt Europas herrsche.

Die Süddeutsche Zeitung, die natürlich über den Alkoholgenuss der Schriftsteller nicht so gut informiert ist wie DIE WELT, bohrt in alten Wunden und verweist auf die langjährige Tradition Weimars als Hochburg der Alt-Nazis:

Eine unleugbare Tradition Weimars ist offenbar in diesem Jahr des Dauerfeierns von Goethe-Klassik, Liszt-Romantik und Bauhaus-Modernität nicht genug gewürdigt worden: Dass dies jene Stadt ist, die sich Herrn Hitler besonders früh und gründlich öffnete, den ersten Parteitag nach der Aufhebung ihres Verbots hielt die NSDAP 1926 in Weimar ab. (…) Jetzt haben einige Herrschaften an das ‘Versäumnis’ des Festivalkomitees der Kulturhauptstadt Europas, diese glorreichen Zeiten nicht hinreichend gefeiert zu haben, schlagkräftig erinnert.

Aber wie alles, so geht auch das Goethe-Jahr einmal zu Ende: die Kulturhauptstadt Europas wird wieder auf das Maß eines Thüringer Provinznestes schrumpfen, und die ortsfremden Schriftsteller, so sie denn nach Weimar kommen, werden ihre Bewunderung für nicht-arische und schwule Schriftsteller nicht mehr im ›Schmalen Handtuch‹ inmitten ostdeutscher Stammtische lautstark kund tun. – Solingen 2. September 1999