Das Rohe und das Gekochte

Die Ehe für alle, das Pamphlet von Johannes Gabriel und die Gedanken des Anthropologen Maurice Godelier.

Am 30. Juni 2017 beschloss der Bundestag, dass auch homosexuelle Paare eine bürgerliche Ehe schließen können und damit in allen weltlichen Belangen heterosexuellen Eheleuten gleichgestellt sind. Ob der Jubel über diese verspätete Gleichstellung von Dauer ist oder das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz, wie so viele in der letzten Zeit, wieder kassiert, bleibt dahingestellt.

In den Jubel mischte sich Entrüstung über einen Artikel in der FAZ, dessen Autor das christlich aufgeladene Pseudonym Johannes Gabriel benutzt. Der Titel des Pamphlets, das der homosexuelle Theologe David Berger auch in seinem Blog veröffentlicht, lautet: »Wir verraten alles, was wir sind«. Ob David Berger Johannes Gabriel ist, sei einmal dahingestellt, aber der Autor, so die FAZ, sei Philosoph und Psychologe – und da er ostentativ das Wir benutzt, muss er (oder sie?) wohl selbst homosexuell sein. Der Shitstorm im Netz entzündet sich vor allem an folgendem Satz:

»Und ist es wirklich so abwegig, was manche Gegner der Homo-Ehe behaupten, dass adoptierte Kinder ungleich stärker der Gefahr sexuellen Missbrauchs ausgeliefert sind, weil die Inzest-Hemmung wegfällt und diese Gefahr bei homosexuellen Paaren besonders hoch sei, weil die sexuelle Outsider-Rolle eine habituelle Freizügigkeit erotischer Binnenverhältnisse ohne alle sexual-ethischen Normen ausgebildet habe?«

Aus diesem Satzungetüm, das einen ebenso ungeheuerlichen Gedanken einkleidet, spricht vermutlich panischer Selbsthass, wie auch die TAZ in ihrem Kommentar vermerkt. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass dieser Artikel uns in die seelischen Abgründe eines Psychologen blicken lässt, von dem wir nur hoffen können, dass er nicht therapiert. Der Erzengel beschreibt Homosexuelle in diesem Passus als sexuelle Außenseiter, die eine habituelle Freizügigkeit ohne alle sexual-ethische Normen ausgebildet haben. Warum diese sexuellen Freigeister ohne alle sexual-ethischen Normen dann aber ausgerechnet die bürgerliche Ehe als Lebensmodell wählen, scheint ihn in seinem Furor nicht zu irritieren.
Ganz im Gegenteil! Die freizügigste sexuelle Promiskuität scheint sogar sein heimliches Ideal zu sein, denn er verurteilt geradezu den Hang von Homosexuellen in der bürgerlichen Ehe aufzugehen und darin zu verschwinden.

Wir wollen so sein wie alle, heiraten wie Bravbürger Jedermann, Kinder haben & Familie gründen … Welch Selbstverrat! Welche Selbstverleugnung! Was für eine Schwäche und Feigheit, die Besonderheit zu übernehmen, die wir sind, die Differenz zu leben, die uns ausmacht! – Seid ihr euch eigentlich klar darüber, wie sehr wir dadurch alles verraten, was wir sind?

Während der Sturm der Entrüstung sich aus der Homophobie des Textes nährt, haben viele Kritiker die Verachtung der bürgerlichen Ehe, die sich wie ein roter Faden durch den Text zieht, offensichtlich übersehen. Aus dem Pseudo-Johannes spricht die urchristliche Verachtung für die Familie, die schon der Religionsgründer predigte:

Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlässt um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfach wieder empfange in dieser Zeit und in der zukünftigen Welt das ewige Leben. (Lukas 18,29-30)

Vermutlich hält Johannes Gabriel Schwule und Lesben für Auserwählte, die eigentlich in zölibatären Zellen eines säkularen Sexordens leben sollten, nun aber kleinlaut in den Schoß der Familie zurückkehren.

Zufällig las ich in den Tagen, als die Bundestagsentscheidung durch einen Lapsus der Kanzlerin unerwartet schnell näherrückte, den Essay ›Die Anthropologie‹ von Maurice Godelier in Lettre International. Darin schreibt der französische Anthropologe:

»Kurz, das Verbot sexueller Beziehungen innerhalb der Familie […] wurde von den Menschen nicht ersonnen, damit sie ihre Schwestern oder ihre Töchter austauschen konnten, vielmehr geschieht dies aus tieferen Gründen, die auf der Tatsache beruhen, dass die menschliche Sexualität asozial ist und dass die Herstellung und Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Beziehungen verlangen, die Ausübung der Sexualität der Reproduktion der Gesellschaft ihrer Strukturen und ihrer Ordnung unterzuordnen.«1

Für den Anthropologen ist jede Sexualität asozial, nicht nur die homosexuelle, die Johannes Gabriel als antibürgerlichen Gegenentwurf idealisiert. Allerdings gibt der Franzosen unserem Erzengel indirekt recht. Durch den Bundestagsbeschluss wird die Homosexualität ebenso wie die Heterosexualität über die bürgerliche Ehe der Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Strukturen untergeordnet. Homosexuelle Beziehungen sind damit nicht mehr per se der gewollte oder ungewollte Gegenentwurf zur bürgerlichen Ehe und zur Familie; der aufregende Outlaw, wie er Pseudo-Gabriel vorschwebt, wird zum langweiligen Bürger.

Durch die Ehe wird Homosexualität zu einer sozial integrierten Komponente der bürgerlichen Gesellschaft. Dass es dazu gekommen ist, hat einen in der politischen Diskussion oft übersehenen Grund. Die Familie ist nämlich nicht die Keimzelle der Gesellschaft. Godelier schreibt dazu:

»Ganz gleich, ob es sich um Rom oder Athen handelte, um das alte China oder Indien vor der britischen Kolonialzeit, um Mexiko vor der spanischen Eroberung und um Frankreich mit der Monarchie vor Gottes Gnaden, jedesmal war die Herrschaft dieser Gesellschaften durch jeweils andere politisch-religiöse Beziehungen festgelegt worden. Kurz, meine Schlussfolgerungen versetzten in meinem Kopf einer Wahrheit den Todesstoß, die durch die Anthropologie ebenso fest wie durch Soziologie, Philosophie oder Theologie begründet schien, dass die Familie überall die Grundlage jeder Gesellschaft ist.«2

Die Familie wird also durch die Gesellschaft definiert und nicht ungekehrt. Für die Anthropologie werden Familien nach den Prinzipien strukturiert, die dem herrschenden Verwandtschaftssystem zueigen sind. Verwandtschaftssysteme bestehen aus sechs Komponenten:

  1. einem Deszendenz- und Filiationsprinzip

  2. Allianzprinzipien

  3. einem hetero- und homosexuellen Inzestverbot

  4. Prinzipien, nach denen das neue Paar seinen Wohnsitz wählt

  5. einem besonderen Wortschatz, um Verwandtschaftsbeziehungen auszudrücken

  6. der Gesamtheit der Vorstellungen über den Entstehungsprozess von Kindern3

In unserem Kontext interessieren uns die Allianzprinzipien, also die Vorschriften, nach denen Ehepartner gewählt werden. Grob gesagt, kann man entweder Personen heiraten, mit denen man schon verwandt ist, oder solche, mit denen man es nicht ist. Während in fast allen bekannten Gesellschaften, die Ehepartner sich nicht selbst gegenseitig aussuchen, sei genau dies in der westlichen Gesellschaft der Fall. In anderen Kulturen gründe sich die Ehe weder auf Liebe noch auf den Sexualtrieb. »In den westlichen Gesellschaften liegen Verlangen und Liebe nunmehr den meisten Verbindungen zugrunde (ohne dass diese Verbindungen zwangsläufig die Form einer Ehe annimmt). Aber die Liebe (oder das Verlangen) ist eine Leidenschaft, die im Allgemeinen nicht das ganze Leben anhält.«4 Die Folge sind Scheidungen, sodass Kinder nacheinander und gleichzeitig in mehreren Familien aufwachsen. Hieraus ergibt sich für Godelier die Notwendigkeit, dass der Staat die Verantwortlichkeiten und Pflichten von Personen mit Elternfunktion gegenüber Personen mit Kindesfunktion regelt. Denn wir leben in einer Gesellschaft, »in der nicht die Familie, sondern allein das Individuum ohne besondere Bindung in den Vordergrund der Gesellschaft gerückt wird.«5 In einer individualisierten Gesellschaft mit funktionalisierter Elternschaft hat prinzipiell jeder das Recht die Elternfunktion zu übernehmen und den daraus resultierenden Pflichten Genüge zu tun. Die Normalisierung der Homosexualität, nach Godelier durch drei wissenschaftliche Disziplinen, tat schließlich ein übriges. Zwischen den Weltkriegen kam die Medizin zu dem Schluss, dass es sich bei der Homosexualität um keine Krankheit handelt. Später hielt die Psychologie sie nicht mehr für eine Perversion. Und die Primatologie entdeckte schließlich, dass Schimpansen und Bonobos untereinander heterosexuelle Beziehungen haben, wenn die Weibchen brünstig sind und homosexuelle, wenn sie es nicht sind. Der Individualismus, die juristische Verallgemeinerung der Elternfunktion zur Legalisierung von Patchwork-Familien und die Normalisierung der Homosexualität durch die Wissenschaft sind die drei großen gesellschaftlichen Entwicklungen, die unweigerlich dazu führten, dass die bürgerliche Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde.

Die Anerkennung der Ehe für alle macht die Veränderung der westlichen Kultur in den letzten Jahrzehnten augenfällig. Sie ist auch für die Befürworter eine irritierende Neuheit. Nutzen wir diese Irritation, um uns bewusst zu machen, dass es keine natürliche Ordnung der menschlichen Gesellschaft gibt. Die Gesellschaft, auch die westliche, ist ein Kulturgut, eine soziale Skulptur, von Menschen geschaffen und alles andere als ewig.

Und wer sich um das Kindeswohl in homosexuellen Ehen sorgt, sollte im Interesse der Kinder, die in diesen Familien erzogen werden, vor allem die Homophobie bekämpfen, die in unserer Gesellschaft noch verbreitet ist.


  1. Maurice Godelier: Die Anthropologie. In: Lettre International, Ausgabe 116, Berlin, S. 111. (Weil ich die Altschreibung von Lettre affig finde, habe ich sie in dem Zitat korrigiert.) ↩︎

  2. ebd. S. 109 ↩︎

  3. ebd. S. 110 ↩︎

  4. ebd. S. 112 ↩︎

  5. ebd. ↩︎