Das Sprachtabu

Sind Boykottaufrufe gegen Israel Volksverhetzung?

Während die Bundesregierung nach langem Zögern endlich zugibt, zurzeit keine militärischen Ersatzteile mehr an Israel zu liefern, was man aber nicht als Boykott verstanden wissen will, müssen Bundesbürger, die dazu aufrufen, keine Jaffa-Orangen mehr zu kaufen, mit einem Besuch des Staatsanwalts rechnen. Dies passierte jedenfalls einem gewissen Mario Dultz, seines Zeichens Chefredakteur eines Coburger Szeneblättchens. Er schloss im April seinen Leitartikel mit den Worten: »Don’t buy Jewish! Free Palästina!«, woraus der Staatsanwalt den Schluss zog, Dultz könnte sich damit der Volksverhetzung schuldig gemacht haben.

Kein Mensch, nicht einmal ein Staatsanwalt, käme auf die Idee, jemanden der Volksverhetzung anzuklagen, wenn er mit einem Transparent durch die Gassen liefe, auf dem in großen Lettern zu lesen wäre: Don’t buy Russian! Free Chechnya! Und jeder, der aus Protest gegen die Unterstützung islamischer Terrororganisationen zum Boykott saudi-arabischen Öls aufriefe, erntete höchstens ein mitleidiges Lächeln. Selbst derjenige, der aus Sympathie für die Unterdrückten dieser Welt lauthals den Boykott amerikanischer Fast-Food-Ketten forderte, könnte sich auf die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit berufen. Vermutlich hätte auch Mario Dultz keine Probleme bekommen, wenn er auf die modischen Anglizismen in seinem Text verzichtet hätte. Dann wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass der Satz »Kauft nicht bei Juden!« in Deutschland schon einmal in aller Munde war, sodass er vielleicht darauf verzichtet hätte. Angeblich wollte er provozieren, doch weil ihm zu einer echten Provokation der Mut fehlte, benutzte er das unverfänglichere Englisch. Dies reichte jedoch schon, um die Staatsanwaltschaft zu provozieren.

Die politische Kultur in Deutschland ist peinlich darum bemüht, die Anwendung der Begriffe ›jüdisch‹ und ›israelisch‹ politisch korrekt zu kategorisieren. So dürfen wir zwar von einem jüdischen Staat reden, obwohl in Israel auch Christen, Moslems und sogar Atheisten leben. Die palästinensischen Flüchtlingslager werden jedoch nicht von jüdischen Bulldozern niedergewalzt, sondern von israelischen. Auch sind es keine Juden, die auf Palästinenser schießen, sondern israelische Soldaten. Wer trotz unseres historisch besonderen Verhältnisses zu Israel unbedingt Kritik am Vorgehen Sharons üben will, darf höchstens von israelischer Aggressionspolitik sprechen, aber um Gottes willen nicht von jüdischen Kriegsverbrechen. Die offizielle Sprachregelung will zwar nicht ausschließen, dass Ariel Sharon während des Libanonkriegs in einem Palästinenserlager Kriegsverbrechen begangen hat, Juden als solche aber begehen keine Kriegsverbrechen, sie sind stets die Opfer solcher Gräuel. Sollten Juden dennoch einmal ausnahmsweise Täter sein, verwandeln sie sich durch diese Tat automatisch in Israelis.

Der Gründungsmythos der deutschen Nahostpolitik

Die sprachliche Einteilung in jüdische Opfer und israelische Aggressoren, das Tabu, die Begrifflichkeiten ›Jude‹ und ›Israeli‹ in anderen als den erlaubten Kontexten zu benutzen, ist der sprachliche Gründungsakt der deutschen Nahostpolitik. Ohne dieses Gründungstabu wäre eine deutsche Nahostpolitik kaum möglich. Nur durch die Trennung der Sphären ist es z.B. unserem Außenminister möglich, seine jugendlichen Sympathien für die palästinensische Sache mit dem im Nachkriegsdeutschland nicht hinterfragbarem Existenzrecht Israels zu verbinden. Nur durch diese Trennung kann man sich in der Innenpolitik glaubwürdig gegen antisemitische Strömungen wenden und außenpolitisch den Befreiungskampf der PLO gegen die israelische Besatzung unterstützen. Doch nicht nur die Linke vermochte mit Hilfe des Sprachtabus, ihr disparates Politikverständnis zu einer zeitweise tragfähigen Identität zusammenzuleimen, auch die Rechte in Deutschland nutzte das gesamtdeutsche Tabu geschickt. Einerseits unterstützte man Israel im Kampf gegen die als links imaginierte PLO, andererseits nutzte man diese außenpolitisch eindeutige Stellungnahme als Legitimation, um in der Innenpolitik die antisemitischen bzw. die weniger prekären rassistischen Strömungen in den eigenen Reihen von Zeit zu Zeit über die Stränge schlagen zu lassen und im Übrigen eine durch ihre Beziehungslosigkeit vollkommen leere Beziehung zu den jüdischen Institutionen in Deutschland wie z. B. dem Zentralrat der Juden zu pflegen.

Tabus verbergen Lebendiges

Tabus dienen der Verdrängung. Was aber soll durch das Sprachtabu vor unserem Bewusstsein verborgen werden? Kein ernstzunehmender Mensch leugnet heutzutage den Holocaust. Das mag in den Gründungsjahren unserer Republik, in der auch das Sprachtabu entstanden ist, anders gewesen sein. Dies würde jedoch nicht erklären, warum das Tabu bis heute so wirkungsmächtig geblieben ist, dass ein Redakteur, der dieses Tabu verletzt, mit dem massiven Vorwurf der Volksverhetzung konfrontiert wird. Das Tabu verdrängt sicher nicht unsere Scham angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit, auch wenn Politiker nicht müde werden, zu betonen, dass aus unserer Geschichte ein besonderes Verhältnis zu Israel resultiert. Natürlich wurzelt das Tabu in der Vergangenheit, doch das, was es verdrängen will, muss sehr lebendig sein.

Die tabuisierten Geburtshelfer Israels

Vielleicht können wir uns dem Tabuisierten nähern, wenn wir das so oft beschworene und ebenfalls tabuisierte Existenzrecht Israels, was politisch korrekt nicht hinterfragt werden kann, einmal dennoch hinterfragen. Hat ein Staat, der seit Jahrzehnten trotz zahlreicher UN-Resolutionen fremde Gebiete besetzt und die dortige Bevölkerung unterdrückt, ein Existenzrecht? Die Frage klingt polemisch, wenn wir aber zur Beantwortung die Reaktionen der Staatengemeinschaft auf ähnliche Fälle zu Rate ziehen, so müssen wir auf unsere polemische Frage mit einem überzeugten »Aber sicher!« antworten. Im Allgemeinen wird die Existenzberechtigung eines Staates selbst dann nicht in Frage gestellt, wenn er wie im Falle Serbiens oder des Iraks in einen anderen Staat einfällt oder sich schlimmster Kriegsverbrechen schuldig macht. Sogar das Existenzrecht Deutschlands wurde trotz der unvorstellbar grausamen, nationalsozialistischen Verbrechen nie ernsthaft in Frage gestellt. Deutschland, der Irak, Serbien und zuletzt Afghanistan wurden zwar bombardiert, doch ihre staatliche Integrität stand nie auf dem Spiel. Durch das Vorgehen der israelischen Armee in den besetzten Gebieten kann Israel, auch wenn man an Israel die gleichen strengen Maßstäbe wie an andere anlegt, sein Existenzrecht nie und nimmer verspielen. Warum also wird das Existenzrecht Israels dennoch so eindringlich betont? Fast könnte man den Verdacht schöpfen, dass die Betonung des Existenzrechts eine Art Mantra sei, eine Selbstbeschwörung. Warum müssen wir uns etwas so Selbstverständliches wie das Existenzrecht eines UN-Mitglieds ständig bestätigend vor Augen führen? Sind wir unterbewusst der Meinung, dass die Staatsgründung Israels ein Fehler war? Halten wir unterbewusst den Staat Israel für ein Unding?

Die Geburtshelfer des Staates Israel waren der Terror und das schlechte Gewissen. Der Nazi-Terror und das unvorstellbare Leiden der jüdischen Bevölkerung in Europa brachten das zionistische Projekt auf die Tagesordnung der Weltpolitik. Das Leiden der Juden in Europa legitimierte den Anspruch auf einen eigenen Staat. Der Terror der jüdischen Untergrundorganisation erhöhte andererseits den Preis für die Engländer, die einem zionistischen Staat nicht zustimmen wollten. Viele Nationen wurden von Gewissensbissen geplagt. Die Deutschen schämten sich für ihre Taten, die von Nazideutschland besetzten Staaten sowie die Staaten mit ehemals nazifreundlichen Regimen schämten sich für ihre Kollaboration bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und die Alliierten schämten sich, weil sie kaum etwas getan hatten, um den Holocaust zu verhindern oder wenigstens zu behindern.

Wenn man diese Vorgeschichte einmal weglässt, so wird die Gründung Israels mit derjenigen der USA und Australiens vergleichbar. Alle drei Staaten wurden von Einwanderern gegründet, die die ursprüngliche Bevölkerung verdrängten. Während die europäischen Einwanderer die Kulturen der Indianer und der Aborigines zerstörten, vertrieben die jüdischen Einwanderer die Palästinenser. Alle drei Staaten gründen auf einem Gewaltakt, einem Unrecht, begangen an der ursprünglich ansässigen Bevölkerung. Bis heute dauern alle drei Konflikte an. In Australien und den USA kämpfen die Ureinwohner mittlerweile vor Gericht um ihre Rechte, da ihr militärischer Widerstand schon vor mehr als einem Jahrhundert endgültig gebrochen wurde. Der Widerstand der Palästinenser ist jedoch noch nicht gebrochen, sodass ein Ende des Krieges nicht abzusehen ist.

Die Entfremdung des Nächsten

Die Gründung Israels entschärfte in Deutschland nach dem Krieg ein Problem, das bis heute für persönliche Verletzungen sorgt. Wie sollten sich nach dem Holocaust Juden und Nichtjuden in die Augen blicken? Wie sollten sie in Zukunft miteinander leben? Durch die Gründung des Staates Israel konnte diese Frage verdrängt werden. Im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit sind nach dem Krieg die meisten überlebenden Juden nach Israel ausgewandert. Über die Wenigen, die blieben, breitete man das Mäntelchen des Schweigens. Der Zentralrat der Juden durfte regelmäßig an die Gräuel der Nazizeit erinnern, und die in Deutschland verbliebenen Juden lebten in einem exterritorialen Status, der im Prinzip bis heute fortdauert. Nur ab und zu desavouierte ein ›Skandal‹, wie Rainer Werner Fassbinders Theaterstück ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ oder die Walser/Bubis-Debatte die Künstlichkeit eines Zustands, der immer noch Wunden schlägt. Zuletzt hat Ignatz Bubis darauf aufmerksam gemacht, als er beklagte, in Deutschland weder geliebt noch gehasst, sondern bloß geduldet zu sein. Ist der Grund für unser besonderes Verhältnis zu Israel in der Verdrängung der Frage nach dem ›Wie‹ des Zusammenlebens zu suchen? Betonen wir das Existenzrecht Israels deshalb so eindringlich, weil uns die Existenz eines jüdischen Staates erlaubt, die in Deutschland lebenden Juden als Gäste zu betrachten? Gäste, die man duldet, weil man sie als Alibi vor der Weltöffentlichkeit braucht? Und ermöglicht vielleicht erst die Existenz Israels und damit die Freiheit, Deutschland jederzeit zu verlassen, vielen Juden überhaupt ein Leben in Deutschland? Ignatz Bubis sagte einmal, auf die Frage, ob ihm der aufsprießende Rechtsradikalismus in Deutschland Angst mache, dass er keine Angst um die deutschen Juden habe, da diese ja jederzeit nach Israel auswandern könnten, er habe vielmehr Angst um die Deutschen, die hier bleiben müssten. Ist das Tabu, mit dem das Existenzrecht Israels belegt ist, ein gemeinsames Tabu, das jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen nach den Schrecken des Holocausts ein formalisiertes und höchst zerbrechliches Zusammenleben ermöglicht? Vor diesem Hintergrund beginnt sich der Schleier vor dem Sprachtabu, durch dessen Verletzung man schnell in den Geruch eines Volksverhetzers kommt, zu lüften. Wird durch das sorgsam gehütete Sprachtabu, die Trennung in ›Juden‹ und ›Israelis‹, die Unmöglichkeit des Zusammenlebens kaschiert. Oder muss man sogar noch weitergehen und feststellen, dass das Tabu unsere innere Weigerung, mit Juden zusammenzuleben, vor unserem Bewusstsein verbirgt, das diese Weigerung nach Auschwitz nicht mehr tolerieren kann? Dann wäre der Israeli der auf legitime Weise ausgegrenzte, exterritoriale Jude, mit dem wir nicht mehr zusammenleben müssen. Der Israeli ist der durch einen willkürlichen Sprachakt Entfremdete, ein Fremder mit einer fremden Religion. Die Religion des Israeli ist herabgesunken zu einem folkloristischen Attribut eines Ausländers. Sie ist kein innenpolitisches Fanal mehr. Wir können durch diesen Sprachakt dem Israeli so unbefangen gegenübertreten wie jedem anderen Fremden, wie einem Tibeter, einem Türken oder einem Afrikaner.

Der ›Jude‹ ist im Gegensatz zum ›Israeli‹ ein Einheimischer, den wir in unserer Vorstellung entfremden und der sich gegen diese Entfremdung durch sein Deutschsein sträubt. Er bleibt stets ein Mitbürger, dessen Fremdsein in uns selbst gründet, in unseren Vorurteilen und Ressentiments. Wir entfremden ihn in unserem antisemitischen Wahn, während er doch als Mitbürger und Nachbar uns stets nah ist und nah bleibt. Dieses Entfremden des Nächsten ist eine Krankheit mit einer langen Geschichte. So misstraute man im katholischen Spanien den getauften Juden so sehr, dass man schließlich 1492 alle nicht getauften aus dem Lande vertrieb. Man glaubte, die ›Conversos‹, die teilweise in hohe Staatsämter aufgestiegen waren, würden insgeheim ihrer alten Religion anhängen. Der innere Zwang, den Nächsten zu entfremden, war stärker als die Gemeinschaft stiftende Taufe und Kommunion. Die Geschichte ist reich an ähnlichen Beispielen, die bis zu den Nazis reichen, die aus denselben paranoiden Zwangsvorstellungen den Nächsten als Fremden kennzeichnen mussten und die Juden zwangen, das von den Nazis imaginierte Judentum durch Tragen eines gelben Sterns öffentlich zu zeigen.

Wir haben es mit einer doppelten Entfremdung zu tun. Das Sprachtabu trennt den immer schon entfremdeten Nächsten, den Juden, von dem entfremdeten Juden, dem Israeli. Der Israeli ist der zweimal entfremdete Nächste. Die erste Entfremdung ist die zwanghaft innere, antisemitische Entfremdung (der entfremdete Nächste), die zweite die externe Entfremdung, die Auswanderung des Juden nach Palästina, durch die er zu einem Israeli wird. Inwiefern die zweite Entfremdung von den Juden selbst als eine Möglichkeit betrachtet wurde, der ersten Entfremdung zu entfliehen, muss dahingestellt bleiben.

Die zweite Entfremdung ist eine scheinbar legitime, weil sie in Übereinstimmung mit dem Wunsch der Juden nach einem eigenen Staat steht. Diese scheinbar legitime, zweite Entfremdung verbirgt die erste, die unser an Auschwitz geschärftes Bewusstsein als illegitim empfindet. Erst durch die doppelte Entfremdung ist es uns nach Auschwitz möglich, im Nahostkonflikt die Verbrechen der Juden als Verbrechen der Israelis zu kritisieren, ohne in die Gefahr zu geraten, vor unserem Gewissen als Antisemit zu erscheinen. So darf man ohne Gefahr behaupten, dass der Terror der al Qaida seine Wurzeln nicht in Saudi-Arabien, sondern im Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern habe. Unsanktioniert bleibt sogar, wer eigennützig die deutschen Opfer mit ins Blickfeld rückt und behauptet, dass mittlerweile die ganze Welt unter dem Nahostkonflikt zu leiden habe. Und wenn man Jürgen Möllemann zuhört, so glaubt man, dass er nur auf eine günstige Gelegenheit wartet, um sagen zu können: Wie entspannt könnte unser Verhältnis zur arabischen Welt sein, wenn es die Juden nicht gäbe, die durch ihre bloße Existenz dieses Verhältnis dauernd stören und die wir aufgrund unserer Geschichte auch noch unterstützen müssen. Als cleverer Politiker würde er vermutlich von Israelis und nicht von Juden sprechen. Denn sobald man in diesem Kontext nicht mehr von Israelis, sondern von Juden spricht, läuft man Gefahr, den Anschein zu erwecken, die Juden erneut zum Sündenbock machen zu wollen.

Bruch oder Überwindung des Tabus?

Auch wenn wir ein Tabu als solches erkannt haben, bleibt die Frage: Was tun? Sollen wir das Tabu brechen? Oder gibt es Möglichkeiten, Tabus zu überwinden, ohne sie zu brechen. Problematisch am ersten Weg ist die Tatsache, dass ein Tabu nie unsere Privatangelegenheit, sondern eins der vielen Fundamente unserer Gesellschaft ist. Wenn wir es brechen, stoßen wir viele Leute vor den Kopf und stellen damit auch den Erfolg unserer besten Absichten in Frage. Überwunden ist ein Tabu erst dann, wenn die gesamte Gesellschaft dem Bruch zustimmt, der dann jedoch nicht mehr nötig ist. Doch wie lässt sich ein Tabu überwinden, wenn es zuvor nicht von Einzelnen gebrochen wurde, die dann wie Mario Dultz Ärger bekommen. Viel wichtiger aber ist, uns zu fragen, was wir durch den Tabubruch überhaupt erreichen wollen. Wir müssen uns vor allem darüber klar werden, was wir durch den Tabubruch in keinem Fall erzielen können. Ein Bruch des Sprachtabus bringt jedenfalls keine Lösung für den Nahostkonflikt, weil das Tabu in unserem Verhältnis zu den Juden wurzelt und damit nur sehr wenig mit den Kriegsursachen in Nahost zu tun hat. Druck auf Israel können wir auch ausüben, ohne das Tabu zu verletzen. Den Schlüssel zur Lösung eines Konflikts besitzt immer der Stärkere, der nachgibt und die Spirale der Gewalt verlässt, und in diesem Falle ist der Stärkere Israel.

Dem Sprachtabu selbst können wir mit mehr Gelassenheit begegnen. Nicht jeder, der es bricht, verhetzt gleich das Volk. Wenn wir schon nach verstecktem Antisemitismus fahnden, dann sollten wir ihn bei denjenigen suchen, die so peinlich auf die Einhaltung des Tabus pochen und damit die doppelte Entfremdung zementieren. Denn je länger Israel existiert, und für die jüngere Generation existiert es schon ihr ganzes Leben, umso tiefer kann sich die zweite Entfremdung in unser Denken eingraben. Das wirksamste Mittel gegen diese Zementierung wäre eine Förderung des jüdischen Lebens in Deutschland. Nur wenn die Juden uns nah bleiben, und sich wie Ignatz Bubis nicht mit der Rolle eines Gastes zufriedengeben, können sie der zweiten Entfremdung entgehen und die erste vielleicht überwinden.

Zu welcher Demo darf man gehen?

Vielleicht ist es dazu aber schon zu spät, denn zurzeit hat es den Anschein, als würden beiden Seiten, Israelis und Palästinenser, in Deutschland um Unterstützung ihrer jeweiligen Position kämpfen. Wenn Paul Spiegel, was ihm nicht zu verübeln ist, auf einer Pro-Israel-Demonstration mit den Kritikern Israels scharf ins Gericht geht, könnten diejenigen, die Ignatz Bubis herablassend als lieben Gast betrachtet haben, in ihrem Glauben bestärkt werden, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden verteidige in seiner deutschen Heimat seine wirkliche Heimat. Damit entstünde erneut eine Situation wie im Spanien des 15. Jahrhunderts. Die Paranoia einiger Gruppen würde zwangsläufig in jedem Juden einen Parteigänger Israels sehen. Eine prekäre Situation besonders dann, wenn sich die Beziehungen zu Israel, die im Grunde nur noch wegen ›unserer besonderen Beziehungen‹ als gut bezeichnet werden, weiter verschlechtern würden. Wenn wir aber aus Solidarität mit den Schwächeren zu einer Demonstration der Palästinenser gingen, unterstützten wir dann nicht den Terror der Selbstmordattentate? Der Biedermann bleibt daher lieber ganz zu Hause. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden ist in Deutschland auch ohne den Nahostkonflikt schon kompliziert genug. Die Zuspitzung der Lage im Nahen Osten drängt uns jedoch dazu, Partei zu ergreifen, und dies kann nur die Partei des Schwächeren sein. Das würde aber das formalisierte Nebeneinanderleben von Juden und Nichtjuden zerstören. Vielleicht wäre dies ein Fortschritt. Umgehen ließe sich dieses Problem höchstens dadurch, dass wir die Partei der Friedensaktivisten in Israel ergriffen. Dies könnten wir, könnten Juden und Nichtjuden sogar gemeinsam tun. – Solingen den 21. April 2002