Kultur-Bulimie oder die weimar99card
Wenn man Kultur essen könnte, würde man die Art und Weise, wie die Deutschen Kultur konsumieren als eine fortgeschrittene Form der Bulimie bezeichnen. Tagelang, ja ganze Monate, kommt der Deutsche ohne eine Krume Kultur aus, bis ihn plötzlich – das Wort hat in der neuen Rechtschreibung fast schon onomatopoetische Qualitäten – eine hemmungslose Fresssucht überfällt. Dann stopft er alles in sich hinein, was er kriegen kann. Ganze Berge von Kultur, zumeist in Form von opulenten Events, schlingt er in sich hinein, um einmal im Jahr ein wohliges Völlegefühl zu genießen, bevor er das gerade Verschlungene heimlich auf dem Klo der Großen Samstagsabendshow wieder ausspeit, um ja kein Fett anzusetzen.
Die Industrie nutzt bekanntlich jede Schwäche des Verbrauchers aus, um Kasse zu machen. Die Kulturindustrie macht da keine Ausnahme. Warum soll es auch den Kulturinteressierten besser gehen als den dürren Girlies, die heimlich ihre BigMäcs mit Milka-Schokolade aufpeppen? Die Kulturindustrie weiß, wie sie die geheimen Lüste der Kunstverbraucher für ein Millionengeschäft ausnutzen kann. Immer wieder lockt sie den Bildungsbürger mit neuen exotischen Speisen, richtet ihm auch Unverdauliches so appetitlich an, dass er nicht widerstehen kann und alles, einfach alles schluckt. Fast scheint es so, als ob wir Kultur nur noch im Überfluss ertragen können, im Brechreiz auslösenden Überdruss des Mega-Events: die Love Parade in Berlin oder die Popkomm im Köln, diese jugendgerecht verpackten Travestien des Oktoberfestes oder aber solche multinationalen Spektakel wie die ›Kulturhauptstadt‹, der Gipfel des Hochkultur-Bulimismus.
Da fiel mir doch letztens im InterRegio der Deutschen Bahn das Programm der diesjährigen Kulturstadt Europas, Weimar, in die Hand. Und als ich so darin blätterte, fragte ich mich nur: Müssen wir uns eigentlich so etwas antun? Da wird Faust in zig Variationen auf die Bühne gebracht, wobei zumeist eine Simultandolmetschung erfolgt, damit unsereins noch mitkommt, wenn F@ust version 3.0 in spanischer und katalanischer Sprache aufgeführt wird. Ob die Version 3.0 nun stabil ist, oder dem Beispiel von Microsoft folgend zur Pause abstürzt und das gesamte Bühnenpersonal auslöscht, weiß ich nicht. Aber der Titel ist schon Götterdämmerung genug.
Dann gibt es natürlich auch noch Tanzvorstellungen aus Japan, Südaustralien, dem Königreich Spanien, Brasilien, Harlem, Schweden, Slovenien und Russland, wobei auffällt, dass Gazprom als Projektsponsor auftritt. Überhaupt die Sponsoren! So ab Seite 29 des Programms, also ab dort, wo es um populärere Künste wie Film und Events geht, tauchen massenweise Sponsoren auf. Wenn die Prinzen Songs von Goethe und Nietzsche trällern, sponsort Volkswagen. Ein Jugendcamp mit Workshops, Musik, Ereignissen, Erlebnissen und Weimar-1999-Veranstaltungen wird von Coca Cola gesponsort, »damit das Bild der Klassikerstadt gründlich entstaubt wird.« Ein Festival der großen Katastrophenszenarien im Film wird von Sony supportet, wie es im Neudeutsch heißt.
Aber der Mega-Kultur-Event Weimar 1999 soll uns ja auch neue Perspektiven auf das Wesen der Kunst eröffnen. Und ich bewundere die Kunst desjenigen, der die Finanzgruppe der Sparkasse überredet hat, die Kopie von Goethes Gartenhaus zu finanzieren. Und mit postmoderner Emphase fragt hintergründig der Katalog: Welchen Wert hat das Original ›im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹? Ob die von der Sparkasse gesponsorten Abrissarbeiter im nächsten Jahr noch wissen, bei welchem Haus sie die Birne schwingen müssen?
Wäre Kunst hochgiftiger Sondermüll, was sie in seltenen Augenblicken ja sein soll, so hätte die Wirtschaft einen ganz dicken grünen Punkt verdient, denn nichts entsorgt so rückstandsfrei und sicher wie das Kultursponsoring.
Genug geärgert!
Nur die letzte Frage sei noch gestattet: Würde Goethe sich im Grabe herumdrehen, wenn er lesen könnte, was die Kulturstadt Europas GmbH mit seiner Sprache macht?
Da gibt es zum Beispiel einen ›Call Weimar‹, was nichts anderes ist, als die Telefonnummer, unter der man Eintrittskarten bestellen kann. Wer knapp bei Kasse ist, sollte die ›weimar99card‹ erwerben, mit der man ermäßigt ins Theater kommt, um einer Simultanübersetzung von Goethes Fausts beizuwohnen. Und bei den Danksagungen wird der ›offical carrier‹ und der ›Technical Supporter‹ erwähnt. Offizieller Lieferant ist die ›Coca Cola Erfrischungsgetränke AG Verkaufsgebiet Weimar‹ – man sieht, die Autoren des Programmhefts haben wenigstens noch Achtung vor der eingetragenen Schreibweise ihrer Sponsoren.
Wie sagte doch der Alte: Das Unzulängliche, Hier wird’s Ereignis. – Solingen 8. August 1999