Der Trabi aus Wolfsburg

Über Robert Habeck werden die öffentlich-rechtlichen Medien in den nächsten Monaten viel Häme ausschütten, während ihn die Springer-Presse wohl ignorieren wird. Denn Bild-Lesern müsste man erst einmal erklären, was das Berliner Ensemble überhaupt ist.

Der Grund für den Hass der Medien auf Habeck ist offensichtlich. Er hat den Spieß umgedreht und veranstaltet eine Talkshow im Berliner Ensemble. Zur Premiere lud er ausgerechnet Volker Wissing und Anne Will ein, die Grande Dame der TV-Talkshows, in denen Rechtspopulisten seit Jahren ein- und ausgehen. Und mit Volker Wissing lud Habeck einen ehemaligen Ministerkollegen ein, der erst dann aus der FDP austrat, als diese die Ampelregierung erfolgreich zerstört hatte. Man könnte dies als Ironie lesen, wenn man wollte.

Was aber will Habeck erreichen? Laut den Papageien von WDR 5, die ihre Häme heute morgen kübelweise über ihn ausschütteten, will er eine neue Debattenkultur anregen. Das mag redlich sein. Naiv ist es ganz gewiss.

Denn die Republik braucht keine Gesprächserziehung im Stuhlkreis, sondern offenen Klassenkampf. Habeck war schon einmal klarer, als er vor einigen Jahren darauf hinwies, dass die deutsche Automobilindustrie ein Problem bekommen würde, wenn sie nicht bis 2025 ein Elektroauto für unter 30.000 Euro auf den Markt bringen würde. Das war hellsichtig. Aber die Widersprüche in unserem Land, die dieser Entwicklung zugrunde liegen, wurden nie thematisiert.

Mittlerweile ist es offensichtlich. Die deutsche Autoindustrie ist dort, wo das VEB Automobilwerk Zwickau schon 1970 war: in einer veralteten industriellen Sackgasse. Unsere Trabis kommen heute aus Wolfsburg, Stuttgart, München und Ingolstadt. Die veralteten Verbrenner werden zwar immer noch so liebevoll gepflegt und gehegt wie die Rennpappe in der DDR nach dem Fall der Mauer. Doch in wenigen Jahren werden bloß noch Liebhaber diese Autos kaufen. Die technische Entwicklung ist über die deutsche Autoindustrie hinwegegangen. Aus dem Trabi-Fanal hat sie nichts gelernt.

Habeck war der erste Wirtschaftsminister, der aus den Widersprüchen in unserer Industrie, die richtigen Lehren zog. Sein Bemühen, das Ruder herumzureißen, musste jedoch scheitern, weil ein viel größerer Widerspruch alles blockierte. Verkürzt gesagt geht es um den Widerspruch zwischen der Betriebswirtschaft und der Volkswirtschaft.

Unternehmen haben kein volkswirtschaftliches Bewusstsein, sie sind blinde Kostenoptimierungs- und Renditemaximierungsmaschinen, die ein totes Pferd solange reiten, bis es anfängt unter ihnen zu verwesen. Natürlich bringt der Kapitalismus immer wieder neue und innovativen Unternehmen hervor, die aber, da sie neu und innovativ sind, nicht über die wirtschaftliche Macht der veralteten Industrien verfügen. Sie müssen von einem volkswirtschaftlich denkenden Staat rechtzeitig und massiv genug gefördert werden, um schnell die absterbenden Industrien zu ersetzen. Ob Subventionen oder andere gesetzliche Rahmenbedingungen dabei die beste Lösung sind, sei dahingestellt.

Die Bundesrepublik Deutschland besitzt leider seit vielen Jahrzehnten keinen volkswirtschaftlich handelnden Staat mehr. Denn der Neoliberalismus hat den Staat als solchen komplett entkernt. Deshalb gibt es bei uns keine systematische Industrieförderung wie in China. Deshalb war es möglich, dass Merkel und ihr Wirtschaftsminister Altmaier die aufstrebende Solarindustrie in dem Moment sterben ließen, als sie in die Phase der Industrialisierung, der Massenfertigung, eintreten wollte und damit besonders viel Kapital benötigte. Zur gleichen Zeit legte die kommunistische Partei in China den Hebel um und stampfte eine Photovoltaik-Industrie aus dem Boden, die heute den Weltmarkt beherrscht.

Wie war das möglich? Ein Autor in dem Magazin »Current Affairs« formuliert es so.

»About 40 percent of the Communist Party’s new Central Committee has some kind of technical background, ranging in fields from aerospace to artificial intelligence.«

Er bezeichnet China als Technokratie, als eine Volkswirtschaft, die von Technokraten regiert wird, die das Ganze im Blick behalten. In deutschen Parlamenten und Regierungen sitzen dagegen mit wenigen Ausnahmen Berufspolitiker, die zur Karriereoptimierung bestenfalls Erfahrung als Lobbyist haben. In den letzen Jahren kamen Rassisten und Faschisten hinzu. Sie verstellten einen Blick auf das Ganze endgültig, als sie Migrantinnen und Migranten zum Sündenbock für alles machten. An eine technokratische Wirtschaftspolitik ist unter diesen Vorzeichen nicht zu denken.

Weil das so ist, fahren Chinesen in unter fünf Stunden mit Hochgeschwindigkeitszügen von Peking nach Shanghai. Für die Strecke von Warschau nach Brüssel, die ebenfalls rund 1300 km lang ist, benötigen Reisende laut Fahrplan über zwölf Stunden. In der Realität dürften durch Verspätungen und Zugausfälle in Deutschland einige Stunden hinzukommen.

Weil das so ist, fahren auf deutschen Straßen die Trabi-Nachfolger und verpesten die Luft. Sie sind zum Aussterben verurteilt, aber sie werden von finanzstarken Lobbyverbänden und ihren Politikern mit steuerlichen Milliardensubventionen am Leben erhalten. Der Widerspruch zwischen der alten und der neuen Industrie wird immer grundsätzlicher.

Kosten optimieren und Renditen maximieren: das kann der Kapitalismus wie keine andere sozioökonomische Formation vor ihm. Seine Macht, seine Dynamik und seine Kapitalakkumulation haben bisher ungeahnte Dimensionen angenommen. Erst kürzlich wurde gemeldet, dass Elon Musk nun eine halbe Billionen Dollar besitzt, über 500 Milliarden Dollar. Wenn dieses Kapital nicht volkswirtschaftlich vernünftig reinvestiert wird, ist unser System zum Untergang verurteilt. Es wird an seinen eigenen Widersprüchen ersticken.

China zeigt uns, wie man den Kapitalismus dressiert: mit einer absoluten Gegenmacht, die nicht darauf angewiesen ist, der finanzstärksten Lobby zu gefallen, um ihre Wahlkampfkassen zu füllen; eine Gegenmacht, die sich nicht mit Impfskeptikern, Klimawandel-Leugnern und Rassisten bei Anne Will an einen Tisch setzt. Diese absolute Gegenmacht im Falle Chinas ist die kommunistische Partei, die Milliardäre wie Ma/Musk jederzeit zur Ordnung rufen kann.

»Habeck live« wird vielleicht für ein paar Wochen die Klatschspalten des Feuilletons beleben. Doch mehr wird nicht passieren. Denn dass im Berliner Ensemble die harten Klassengegensätze thematisiert werden, die unser Land ruinieren, der Trabi aus Wolfsburg und die toxischen Meinungsmonopole des Neoliberalismus, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Die Trabis werden trotzdem über kurz oder lang von unseren Straßen verschwinden. Sie werden durch hochmoderne, elektrisch angetriebene Fahrzeuge aus Asien ersetzt werden, falls wir uns als technologisch rückständiges Land individuelle Mobilität dann überhaupt noch erlauben können.