Die wilde Masse und der ironische Romanist

Auf Telepolis huldigt Magdalena Frey der Masse, die wild denke in Verschwörungstheorien, die im Volk vor sich hinwuchern. Der Mob als schöner Wilde, der vor sich hin bastelt, wie Lévi-Strauss in seinem wilden Denken schrieb? Das ist eine steile These.

»Die Masse bastelt zwar, sie stümpert nur aus Abfällen. Aber die Masse denkt!« ruft sie emphatisch aus, und vergisst dabei, dass das, was sie als quasi basisdemokratisches, wildes Denken verherrlicht, längst zu einer Manipulationstechnik geworden ist, die professionell angewendet wurde, um Großbritannien aus der EU und Trump ins Weiße Haus zu bringen. Oder denke ich hier wild und verschwörungstheoretisch, wenn ich flüsternd den Begriff Cambridge Analytica fallenlasse?

Die Masse, wenn es sie denn überhaupt gibt (die Meinungen über die Zahl der Teilnehmer an Covidioten-Demos geht ja weit auseinander), denkt nicht, sie wird gedacht. Das Denken der Masse ist das Gedachtwerden.

Doch lassen wir diese Dialektik einmal im Raume stehen und wenden uns dem zweiten Teil ihres Artikels zu, in dem sie die Vermassung der Linken beklagt, die als akademisches Proletariat »die adipösen Füße ordentlicher Lehrstühle« küsst, statt wild und gefährlich zu denken, um »ihrer materiellen Verwilderung endlich theoretisch« zu entsprechen. Die Sentenz leuchtet ein, allein verarmte Intellektuelle haben schon immer unterthänigste Bittschreiben an die Macht gerichtet und ihre materielle Verwilderung schnell vergessen, wenn sie den begehrten Posten dann endlich aus den Händen der Majestät erhalten hatten.

Denken sei nicht länger Macht, stellt Frey am Ende fest, als wenn das befreiende Denken der Intellektuellen jemals Macht gewesen wäre. Ihre Diagnose greift ins Leere. Sie schreibt: »Wenn sich die Intellektuellen eingestehen, dass auch sie inzwischen zur Masse gehören, so können sie weiterdenken; können jene Linie von links begrifflich ziehen, ohne sich vor ihrer eigenen bedrohlichen Macht und Privilegiertheit zu fürchten.« Indirekt wirft sie damit den Intellektuellen vor, sich vor ihrer eigenen Macht zu fürchten, wobei nicht klar wird, ob sie reale gesellschaftliche Macht meint oder Macht als die Fähigkeit versteht, die große Erzählung, die sie bitter vermisst, noch einmal zu gestalten. Beides hängt miteinander zusammen. Nur durch eine große Erzählung kann Denken überhaupt Macht entwickeln. Dabei ist die große Erzählung gar nicht so groß, denn es ist einfach die Geschichte von einer besseren Welt.

Ob das akademische Proletariat aufsteht oder wie das industrielle lieber sitzenbleibt und es sich in der Prekarisieruung einrichtet, wird die Zukunft zeigen. Die Bewegung der Akademisierung der Intellektuellen, dieses Erbe der Aufklärung, scheint jedenfalls zu Ende zu gehen. Die Akademie ist in einer existenziellen Krise, seitdem der Neoliberalismus ihre Strukturen zersetzte. Er konnte dies aber erst, nachdem er das Denken zersetzt hatte.

Als der Intellektuelle dem Markt mehr als seinem eigenen Verstand vertraute, war es um ihn geschehen. Gegen die Marktgläubigkeit hilft aber kein wildes Denken, es sei denn, Frey verstünde unter dem wilden Denken ein Denken, dass noch nicht vom Markt eingehegt wurde. Ein Denken, das widerständig bleibt und mit intellektueller Disziplin und wilder Leidenschaft die Welt verbessern will.

Der neoliberale Igel ist schon da

Kommen wir aber vom revolutionären Hasen zum neoliberalen Igel, der immer schon da ist.

Damit wären wir bei dem zweiten Artikel über Intellektuelle, der heute erschien. (Fast könnte man meinen, es gäbe eine Renaissance der Intellektuellen.)

Unter dem Clickbait-Titel ›Der Sommer 2020 markiert das Ende von uns Intellektuellen: wie wir zu Claqueuren der Mehrheitsmeinung geworden sind, ohne es zu merken‹ beklagt der emeritierte Romanist, Hans Ulrich Gumbrecht, dass wir – gemeint sind Wir-Intellektuelle – lediglich nachbeten, »was uns Politiker, Virologen und Antirassisten vorgeben.«

Gut gebrüllt, aber der Tiger landet als Bettvorleger. Ich weiß nicht, welche Corona-Krise Gumbrecht erlebt hat, in meiner Krise haben die Politiker vor, während und nach dem Lockdown ihr Fett wie immer wegbekommen. Entweder waren sie zu lasch, oder sie haben überstürzt gehandelt. Und ob es klug ist, während einer Virus-Pandemie denjenigen zu widersprechen, die sich mit Viren so gut auskennen wie Gumbrecht mit der romanischen Literatur, möchte ich, ohne dem Emeritus zu nahe treten zu wollen, bezweifeln. Ganz sicher aber beten nur niederträchtige Menschen nach, was ihnen Rassisten vorbeten. Antirassisten zuzuhören – oder wenigstens den Opfern des Rassismus – kann eigentlich nur jemand falsch finden, der niemals Opfer von Rassismus wurde.

Aufklärer, Aufwiegler, Anwalt

Gumbrecht weist den Intellektuellen drei Rollen zu: die des Aufklärers, die des Aufwieglers und die des Anwalts. Die Rolle des Aufklärers besetzt er ganz und gar Romanist mit der französischen ›Encyclopédie‹, die des Aufwieglers mit Karl Marx und die des Anwalts mit Emile Zola. Dass alle drei Rollen ausgespielt sind, läge an der Ausbildung des Wohlfahrtsstaates, in dem die Ausgebeuteten der Aufklärer und Anwälte nicht mehr bedürften und der Aufwiegler sich daher der Cancel Culture zuwende.

Und vor diesem »jakobinischen Meinungsterror« fürchtet sich sogar noch der emerierte Stanford-Professor. Wie zwischen 1792 und 1794 würden Denkmäler gestürzt, Kollegen geächtet und gefeuert, die sich nicht laut genug zur dominierenden Tugend bekennen. Einer dieser Kollegen, sagt Gumbrecht in Klammern, sei ein Theologe gewesen, »der seine Stelle verlor, weil er in einem Seminar darauf bestand, die Vorstrafen von George Floyd in eine Analyse der Bedingungen seines Todes einzubeziehen.«

Die Stelle lässt eine wichtige Frage offen. Wollte der Theologe im Seminar durch eine Besprechung von Floyds Vorstrafen beweisen, dass seine Ermordung schon mit der systematischen Kriminalisierung der schwarzen Bevölkerung begann oder wollte er durchblicken lassen, dass es keinen Heiligen getroffen habe?

Eine kurze Recherche im Internet förderte dann etwas ganz anderes zutage. Bei dem Theologen handelte es sich nicht, wie Gumbrecht suggeriert, um einen Professor für Theologie, der in Ausübung seines intellektuellen Amtes dem Cancel-Mob zum Opfer fiel, sondern um einen Priester, der sich als Seelsorger um Studenten kümmerte. Und es war auch nicht die Universität, wie man bei den Worten Gumbrechts meinen könnte, sondern die Erzdiözese von Boston, die den Geistlichen zwang von seiner Stelle als Kaplan zurückzutreten. Der Vorgang wird unter anderem hier beschrieben.

Lasst uns noch etwas Spaß haben

Vielleicht ist die intellektuelle Ungenauigkeit Gumbrechts bloß Spaß gewesen, den wir in unserem »unbeweglichen Ernst« nicht verstehen. Was Gumbrecht allerdings unter intellektuellem Humor versteht, erschreckt dann doch, denn ihm fällt unter lauter grimmig ernsten Intellektuellen nur ein philosophischer Satiriker ein: Peter Sloterdijk, der 2009 vorgeschlagen habe, die wohlhabendsten Bürger von allen Steuerverpflichtungen auszunehmen, um sie mit dem Staat zu versöhnen und ihren Spenderehrgeiz zu wecken. Gumbrecht amüsiert sich dann köstlich über die Politiker und Linksintellektuellen, die sich an Sloterdijks Denkimpuls abarbeiteten, »als sei das entsprechende Gesetzeswerk verbindlich umgeschrieben worden.« Dabei habe Sloterdijk bloß einen Scherz gemacht! Sinnfällig nur, dass Sloterdijk uns Deutschen vorschlug, es den Amerikanern nachzumachen. Im Land der geheiligten Gier sind die Superreichen praktisch von allen Steuerzahlungen befreit, können sich daher hemmungslos an ihren Spenden berauschen und sich gebärden, als seien sie allesamt wiedergeborene Nikoläuse, die ihre Cashmere-Mäntel an frierende Mütter verschenken.

Gumbrecht huldigt der postmodernen Ironie, die längst aus der Akademie auf die Straßen entlaufen ist und den Mob antreibt, den Virologen, Politikern und Antirassisten zu widersprechen. Und diesem wilden Denken applaudiert Gumbrecht.