Flächendeckendes Kabarett
Als ich letztens in der Sauna den Ruheraum betrat, warf ich wie immer einen Blick nicht auf die sekundären Geschlechtsorgane der dort hingelagerten Frauen und Männer, sondern auf ihre sekundären Bildungskennzeichen, sprich ihre Lektüre. Natürlich las niemand der Anwesenden trotz Sharons unermüdlicher Werbekampagne ›Die Reise nach Jerusalem‹, dafür waren zwei Personen in ›Harry Potter‹ vertieft. Und wieder einmal wurde mir klar, dass ein kleiner Romancier wie ich nicht gegen die globale Romanindustrie anstinken kann, außer er lässt im Ruheraum unter literarischem Protest seine Winde fahren.
Letzteres habe ich natürlich nur im Geiste gemacht, denn ich sagte mir: Wie gut, dass du ins satirische Fach gewechselt bist! Hier gibt es keine Joanne Rowlings, die die Kaufkraft der Romaneleser abschöpft, sodass für die Kleinen nichts mehr übrig bleibt. Doch als ich mich nach dem nächsten Saunagang ins eiskalte Tauchbecken stürzte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich mir falsche Hoffnungen machte.
Denn auch Satire und Kabarett sind heutzutage Teil einer professionellen Kulturindustrie. So kann beispielsweise der bekannte Kabarettist Bernhard Jagoda mit einem Etat von über 50 Milliarden Euro ein Wahnsinnsprogramm auf die Beine stellen. Jeden Monat lockt Jagoda mit einem bundesweit ausgestrahlten Fernsehauftritt die Zuschauer in sein Tourneeprogramm, das in allen deutschen Städten und Gemeinden in eigenen Häusern spielen kann. 52 Wochen Kleinkunst, Kabarett und bissige Satire flächendeckend in ganz Deutschland. Und das Schönste ist, dass Jagoda sich nicht wie viele andere Kabarettisten über Minderheiten lustig macht, sondern seine Späße auf Kosten der Mehrheit treibt.
So wie Frau Rowlings eine ganze Branche ernährt, so ist auch Bernhard Jagodas ›Bundesanstalt für Arbeit‹, so der Name seiner unvergleichlichen Truppe, zu einem echten Wirtschaftsfaktor geworden. Kaum gab es Kritik an seinen oft hintergründigen Pointen, scharten sich die Bonzen im Vorstand der Kabaretttruppe um ihren Vortänzer. Eine risikoreiche Programmänderung sollte auf jeden Fall vermieden werden.
Dass der Staat sein eigenes Kabarett finanziert, ist vorbildlich, in anderen Ländern und zu anderen Zeiten wurden Kabarettisten ins Gefängnis oder ins Lager geschickt. Heute erhalten sie endlich die Förderung, die sie verdienen.
Auch für den kabarettistischen Nachwuchs wird dabei gesorgt. Die deutschen Kultusminister haben sich gerade erst durch eine großangelegte internationale Studie bestätigen lassen, dass die deutschen Schulen die Parodie ihrer selbst sind. So ist auch nach dem Ende von Bernhard Jagodas Karriere der Fortbestand der satirischen Bundesanstalt gesichert.
Apropos Parodie. In Wahlkampfzeiten begegnet man im Fernsehen den seltsamsten Blüten. Nur weil die Meinungsforscher festgestellt haben, dass Kabarettisten beliebter als Politiker sind, beginnen die Politiker nun die Kabarettisten zu parodieren. Den Anfang machte Edmund Stoiber, der in Sabine Christansens Sendung Piet Klocke und Dieter Hildebrandt parodierte und wie diese kaum einen Satz zu Ende brachte und trotzdem alles sagte, was er nicht sagen wollte.
Da wollte George W. Bush nicht zurückstehen. Seit einigen Wochen parodiert er abwechselt das Krümelmonster aus der Sesamstraße und Ronald Reagan. Im heldenhaften Kampf mit den Terrorbrezeln dieser Welt erlitt er allerdings an beiden Augen eine Achsenverkrümmung, sodass er den Iran, den Irak und Nordkorea ins Visier nimmt, obwohl sich am 11. September 2001 kein Nord-Koreaner, kein Iraker und kein Iraner ins World Trade Center oder aufs Pentagon gestürzt hat. Fast alle Krieger des Bösen einschließlich Osama Bin Laden kamen aus Saudi Arabien, einem autoritär regierten Lande mitten auf der arabischen Halbinsel. Aber in Geografie waren Amerikaner noch nie sonderlich stark, was man gerade wieder bei den Olympischen Spielen beobachten kann, wo die Sportler aus Georgien von eigens angereisten Südstaaten-Fans besonders heftig angefeuert werden.
Doch das Kabarett hat nicht nur Freunde. Keinen Spaß versteht z. B. Roman Herzog, der die Kompetenzen des Bundesrates beschneiden will, damit sich in Deutschland endlich mehr bewege als die Lachmuskeln. Da könnte man ja genauso gut die 16 regionalen Kleinkunstbühnen ganz abschaffen, auf denen die zukünftigen Bundeskanzler für ihren großen Auftritt üben. Natürlich würden wir dadurch eine Menge Geld sparen. Doch wo sollen wir hin mit den arbeitslosen Ministerpräsidenten, Landesministern und Landtagsabgeordneten? Sollen die alle in Jagodas Truppe mitspielen? – Solingen den 19. Februar 2002