Kurtaxe für den Alexanderplatz

In Berlin ist heute ein alter Menschheitstraum in Erfüllung gegangen: dank des überragenden Genies Berliner Landschaftsplaner. Seitdem vor vielen tausend Jahren im Zweistromland Mesopotamien die ersten Metropolen entstanden sind, war es der sehnlichste Wunsch aller Großstadtmenschen, der Babylonier, der Römer, der Pariser, der New Yorker und natürlich auch der Berliner: unberührte Natur, reine, gesunde Luft, tiefe lauschige Wälder, sanfte Auen mitten in der Stadt. Musste der Ostberliner noch bis vorgestern mit seinem Auto oder mit der S-Bahn Stadtflucht begehen, um einmal auf seiner Datscha oder am Müggelsee die Seele baumeln lassen zu können, so brauchte er heute bloß auf den Alex zu fahren und war mitten im schönsten Naherholungsgebiet.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die hässlichste Ecke Berlins in einen Landschafts- und Vergnügungspark verwandelt hat, ist schon atemberaubend. Aber so ist Berlin eben: wo gestern noch eine vierspurige Straße war, ist heute ein kilometerlanger Stau vor einem riesigen Loch. Als ich im letzten Jahr in Berlin war, gab es dort zwar wie immer viele Bagger, aber keine Baggerseen. Heute dagegen, kein Jahr später, wurde mitten in Berlin ohne große Feierlichkeiten, aber unter den Augen der gesamten deutschen Touristikpresse ein riesiger Freizeit- und Erholungspark eröffnet. Da soll niemand mehr die Verödung unserer Innenstädte beklagen. Die hat auch ihre guten Seiten, denn nur so kann die Natur in der Stadt wieder heimisch werden.

Der Andrang war, wie man sich denken kann, natürlich gewaltig. Halb Berlin war auf den Beinen, als die ersten Andenkenläden öffneten, um kleine Berliner Souvenirs, wie koreanische Stereoanlagen, malaysische Kleider und zuckerfreies Kaugummi, an Badegäste, Touristen und Ausflügler zu verkaufen.

Die Berliner Landschaftsplaner haben aber auch wirklich an alles gedacht. Der erschöpfte Erholungsuchende findet auf dem Alex einfach alles, was das Herz eines vom Moloch Stadt gestressten Menschen begehrt: Sonne, Wasser, Kübelpflanzen und den Kaufhof. Nur ein Wermutstropfen mischte sich in das neue Feuchtbiotop im ehemaligen Ostteil der Stadt. Die Stadtverwaltung soll Gerüchten zufolge erwägen, Kurtaxe für den gesamten Innenstadtbereich zu erheben. Typisch Berlin: die kriegen einfach den Hals nicht voll. Erst müssen sie unbedingt Hauptstadt bleiben, und dann wollen sie auch noch Deutschlands größtes Kurbad werden. Ich sehe schon die Kleinanzeigen unter Vermischtes: Kuren Sie in Bad Berlin mit seinen heilsamen Alexanderquellen. Und aus dem Radio plärrt: So ist die Berliner Luft, Luft, Luft.

Meinetwegen können ja gerne eine Million Berliner auf dem Alex die im Osten so beliebte Nacktbadesaison eröffnen, dann fände man vielleicht am Müggelsee mal wieder ein stilles Plätzchen ohne Grillgerüche, aber dass nun auch noch, wie ich aus gut unterrichteten Kreisen der Kurverwaltung Berlin i.G. erfahren habe, jeder umgezogene Bonner Beamte seinen eigenen Kurschatten erhalten soll und das auf Kosten des Steuerzahlers – das finde ich reichlich übertrieben. – Solingen 1. August 1999