Wo pinkeln die MdB’s?

Vor vielen Jahren – oder waren es Jahrzehnte? – haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in unverhoffter geistiger Transzendierung ihrer Spießbürgerlichkeit, die Verhüllung des Reichstages durch das Verpackungsehepaar Christo und Jeanne-Claude gestattet. Und für die vierzehn Tage, in denen der Reichstag wie eine Raupe von einem glänzenden Kokon umhüllt war, war Berlin endlich wirklich das, was die Berliner immer schon glaubten: der Nabel der Welt.

Die Verhüllung der protzigen, wilhelminischen Fassade nahm dem Gebäude seine plumpe Klobigkeit, seine denkmalgeschützte Hässlichkeit. Mitten in Berlin stand ein glänzendes, luftleichtes Gebilde nie gesehener Schönheit. Und die Verpuppung des Reichstags löste eine Metamorphose aus: als Christos Hüllen fielen, hatte sich der Reichstag in vielen Köpfen verwandelt. Er war nicht mehr Symbol für eine rückwärtsgewandte Politik, sondern plötzlich ein Ort der Demokratie, dem Kaiser abgerungen und von den Nazis in Brand gesteckt.

Leider können sich weder die Anhänger indischer Yogis lange Zeit im schwebenden Meditationszustand dreißig Zentimeter über dem Erdboden halten, noch können unsere Abgeordneten sich längere Zeit der Schwerkraft ihrer Tumbheit entziehen. Und so halten unsere Repräsentanten uns allen mit ihren Entscheidungen immer wieder einen Spiegel vor. Denn anstatt den Bundestag Bundestag zu nennen, und den Begriff Reichstag den Berliner Taxifahrern zu überlassen, quälten sie sich ein Wortungetüm ab, dass fast schon ein Anrecht auf das Unwort des Jahres haben sollte, wenn es nicht das Unwort von der ›humanitären Katastrophe‹ gebe.

Leider, leider erwiesen sich unsere Parlamentarier nicht als würdige Nachfolger Christos und nannten das durch ihn verwandelte Gebäude schlicht und bürokratisch: Plenarbereich Reichstagsgebäude. Wenn ein kunterbuntes, alternatives Bürgerzentrum in Köln ›Alte Feuerwache‹ heißt, weil dort früher die Feuerwehr ihr Quartier hatte, so kann man dies ja noch nachvollziehen. Und wenn der Bundestag provisorisch im Wasserwerk tagt, so wird dadurch aus dem Wasserwerk noch lange nicht das Bundestagsgebäude, aber wenn für mehrere hundert Millionen D-Mark das Gebäude, in dem ehemals der Deutsche Reichstag tagte, innen komplett abgerissen und neuerrichtet wird, damit dort in Zukunft und für alle Ewigkeit der Deutsche Bundestag tage, so fragt man sich in der Tat, warum dieses Gebäude in Zukunft ›Plenarbereich Reichstagsgebäude‹ heißen muss und nicht einfach Bundestag.

Wolfgang Thierse, der wie ein zorniger alter Lateinlehrer aussieht, in Wirklichkeit aber Bundestagspräsident ist, stand mit seinem Wunsch auch in Zukunft Präsident des Deutschen Bundestages zu sein, und nicht Majordomo des Plenarbereichs Reichstagsgebäude, scheinbar ziemlich alleine da. So mancher in dieser Republik scheint dermaßen versessen auf die Glorie des Begriffs ›Reich‹ zu sein, dass er mit Zähnen, Klauen und Tischvorlagen das Wort ›Reichstag‹ so lange verteidigte, bis die ermüdeten Parlamentarier sich auf diesen typisch deutschen Kompromiss einigten. Berlin als Hauptstadt der Spießbürger, so hatten sich das die Berliner wohl nicht vorgestellt.

Plenarbereich Reichstagsgebäude: Fragt sich nur, wo unsere Abgeordneten in Zukunft während einer Sitzung des Bundestages ihre kleinen und großen Geschäfte verrichten werden. In Reichs-WCs wohl kaum und in Bundesklos schon gar nicht? Wahrscheinlich werden sie, dann, wenn der Kollege von der anderen Partei gerade das Wort hat, mal eben schnell im Urinalbereich Reichstagsgebäude verschwinden. – Solingen 19. April 1999