Über das Verpetzen

Als ich in die vierte Klasse kam, bekamen wir einen anderen Klassenlehrer. Der neue Klassenlehrer war zwei Köpfe kleiner als unser alter Klassenlehrer, was ihm Komplexe bereitete, die er mit Judo kompensierte. Jedenfalls erklärte er uns ausgiebig, wie er es als junger Kerl in Holland mit zwei baumlangen Kaasköppen gleichzeitig aufgenommen hat und sie mit Hüftwürfen aufs Pflaster legte.

Dieser Lehrer hatte sich so seine eigene Pädagogik zusammengekocht. So setzte er zum Beispiel Ohrfeigen gerne als didaktisches Stimulans ein. Aber es waren nicht die Ohrfeigen, mit denen er mich auch ab und zu motivieren und anspornen wollte, die mir besonders ungut in Erinnerung geblieben sind.

Wie der Leser schon erkannt haben wird, achtete dieser Lehrer sehr auf Disziplin, was bei einem Haufen von 47 lebhaften Jungen und Mädchen ein verständliches Ansinnen war. Doch jede Disziplin hat ihre Grenzen, spätestens dann, wenn der Lehrer nicht da ist. Dies wusste natürlich auch unser pädagogischer Judoka und kam auf folgende Idee.

Jeden Morgen mussten der Reihe nach alphabetisch durchs Klassenbuch je zwei Schüler sich vorne an die Tafel stellen, einer für die linke Seite, einer für die rechte Seite des Klassenraums, und jeden an die Tafel schreiben, der vor dem Erscheinen des Lehrers die Disziplin durch ungebührliches Benehmen, Grölen, Schreien oder Toben störte. Sobald unser Lehrer die Klasse betrat, las er die Menetekel an der Tafel, nahm die namentlich erwähnten Schülerinnen und Schüler freundschaftlich beiseite und ermunterte sie mit Hilfe seiner pädagogischen Schlagfertigkeit dazu, sich künftig vor dem Unterricht innerlich zu sammeln und ruhig wie ein Ölgötze den Beginn des Unterrichts zu erwarten.

Irgendwann kam die Reihe auch an mich und so verrichtete ich vorne an der Tafel das Ehrenamt mit großem Eifer. Doch es kam, wie es in einem guten Woody-Allen-Film kommen musste. In der letzten Reihe saßen die, die die vierte Klasse noch einmal besuchen durften. Einer von ihnen, zwei Köpfe größer als ich, war ein besonders netter Junge, der freigiebig Kopfnüsse und andere Leckereien verteilte. Ausgerechnet an diesem Tag, an dem ich vorne an der Tafel stand, grölte er besonders provozierend herum. Ich konnte ihn nicht leiden und schrieb ihn auf.

Natürlich hatte die Sache ein Nachspiel. Nach der Schule auf dem Weg nach Hause erwartete er mich mit seinen Adjutanten und schenkte mir eine große Portion Kopfnüsse und einen längeren Aufenthalt im Schwitzkasten.

Ein großer Lateiner hat mal gesagt: nicht für die Schule, fürs Leben lernen wir. Dem kann ich nur zustimmen. Ich habe gelernt, wie leicht es ist, unter Kindern Hilfssheriffs anzuwerben, die ihre Aufgabe vor der ganzen Klasse öffentlich und auf eigenes Risiko erfüllen. Um wie viel leichter muss es sein, IMs anzuwerben, die keine Angst vor der Rache der Denunzierten haben müssen!

Gudrun Tiedge z. B., die bis heute Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verfassung im Magdeburger Landtag war, konnte ihre Tafelaufsicht in aller Heimlichkeit verrichten. An ihre Vergangenheit konnte sie sich erst schrittweise – immer einen Schritt hinter der öffentlichen Enthüllung – erinnern, und sie fühlt sich, wie so viele IMs, als Opfer. Ich weiß nicht, ob sie nur notorische Störenfriede, die Kopfnüsse verteilten, an die Stasi-Tafel schrieb oder auch Mitschüler und Kommilitonen, die nicht linientreue Gedanken in sich hineinmurmelten, um sich für den Unterricht zu sammeln. Auf jeden Fall ging sie nicht mit einem Schild um den Hals durch die Hörsäle, auf dem stand: Ich arbeite freiberuflich für deutschdemokratische Ministerien. Vielleicht hätte sie dann, nach ein paar Kopfnüssen und einem ordentlichen Schwitzkasten, schnell mit dem Verpetzen aufgehört. Doch sie kam leider nicht in den Genuss dieser sozialerzieherischen Wohltaten und machte weiter. Und heute ist sie vom Parlament in Sachsen-Anhalt abgewählt worden. Ja, die Vergangenheitsbewältigung, sie kommt der Sartreschen Hölle oft sehr nah.

So hat der Bundesgerichtshof heute ein paar Freisprüche revidiert. Die Richter, die Robert Havemann absprachegemäß verknackten, müssen wieder vor Gericht.

Doch nicht nur in Deutschland erinnert man sich. London scheint Pinochet nun an Spanien ausliefern zu wollen. Es wird eine lange Prozedur werden, die Pinochet kaum überleben dürfte.

Kommt nun das ›Weltgericht für Diktatoren‹, wie die WOCHE heute titelt? Am heutigen Jubiläumstag – vor fünfzig Jahren verkündete die UNO die allgemeinen Menschenrechte – kann ich mich voll und ganz Antje Vollmer anschließen, die vorne auf der WOCHE schrieb, dass die Staaten erst dann gegen Kriegsverbrecher einschreiten, wenn ihnen dies weder wirtschaftlich noch politisch schaden kann. Bei uns in der vierten Klasse war es noch verpönt, jemanden zu treten, der schon am Boden lag. – Solingen 10. Dezember 1998