Diebstahl ungeistigen Eigentums
Es ist wahrlich ein Jammer. Die Welt ist schlecht. An Missgunst, Neid und Gehässigkeit haben wir uns ja längst gewöhnt. Kleine, schwarzhaarige, furchtbar ausländische Kinder, die alten gebrechlichen Damen die Handtasche klauen, gehören zum Stadtbild wie die Leuchtreklame an Haltestellen. An große schwarze Männer, die deutsche Frauen vergewaltigen, haben wir uns ebenso gewöhnt, wie an zwielichtige, slawische Autoschieberbanden und die russische, georgische und transsibirische Mafia. Niemand achtet mehr das Eigentum des anderen, man glaubt Sodom und Gomorrha seien aus Asche und Salz wieder auferstanden.
Unsere Politiker, die emsig alle Übel vom deutschen Volk fernhalten, bemühen sich tagtäglich, alle Missetäter zu fangen und wieder auf den rechten Weg zu bringen. Während über die Fangmethoden parteiübergreifend weitgehende Einigkeit besteht, ist man bei der Frage nach dem rechten Weg oft uneins. Für die einen führt der rechte Weg in die Resozialisierung (das ist der linke Glaube an das Gute im Menschen), für die anderen führt er in eine Linienmaschine der Lufthansa (das ist die rechte Selbsterkenntnis, dass der Mensch schlecht sei). Ob es bei diesem Streit einen goldenen Mittelweg gibt, mögen andere entscheiden. Wer jedoch andere auf den rechten Weg zurückführen will, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. (Nein, ich plädiere nun nicht dafür, dass Kohl in eine Linienmaschine gesetzt wird, obwohl der schöne Brauch der Verbannung gestürzter Herrscher nicht die schlechteste Tradition der alten Griechen war.) Mein Anliegen gilt der Moral und dem dritten Gebot: ›Du sollst nicht stehlen!‹
Wer hält sich noch daran? Ich will jetzt gar nicht auf die kleinen schwarzhaarigen, furchtbar ausländischen Jungen zeigen. Es geht mir auch nicht um die sprunghaft angestiegene Zahl der Wohnungseinbrüche und Raubüberfälle auf offener Straße. Nein, es geht mir um die Wölfe im Schafspelz, um die Kavaliersdelikte, die den großen Verbrechen den Weg ebnen, z. B. um die vielen blonden, deutschen Studenten und Studentinnen, die in Komplizenschaft mit zahllosen Copy-Shops ganze Bibliotheken in Minuten kopieren, wofür früher ein ganzes Kloster Jahrzehnte gebraucht hat. Oder nehmen wir die Programmierer, die megabyteweise fremden Code in ihre Programme einbauen. Oder die Beamten, die unsere Steuergelder veruntreuen.
Besonders niederträchtig und folgenreich ist es aber, wenn jemand öffentlich sich am Gut seines Nachbarn vergreift und dies auch noch schönredet; wenn rücksichtslos vor den Augen der Öffentlichkeit gestohlen wird ohne schlechtes Gewissen. Ich rede hier vom Diebstahl ungeistigen Eigentums, der genauso schwer bestraft werden sollte, wie das Klauen einer Handtasche; ich rede von der SPD.
Dass den Sozis das 3. Gebot schnuppe ist, mag noch hingehen. Trotzdem hat diese Partei doch für uns alle eine Vorbildfunktion. Ich kann doch nicht mit diebstahlbeschmutzten Fingern auf Laden- und Strauchdiebe zeigen und deren Abschiebung fordern, wenn ich mein Wahlprogramm zur inneren Sicherheit von der CDU geklaut habe. Wie sollen wir, die Wähler, nun reagieren? Null-Toleranz? Abschiebung oder Resozialisierung?
Wer weiß: Vielleicht ist Gerhard Schröder das Opfer der sozialen Umstände, aus denen er kommt. Vielleicht begann alles schon in der Grundschule. Der kleine Gerhard hatte das Glück neben einem netten und klugen Schüler aus besseren Verhältnissen zu sitzen, der ihn immer abschreiben ließ. Tumb, wie Lehrer nun mal sind, haben sie ihn zwar ein- oder zweimal erwischt. Aber sie haben die Folgen dieses Verhaltens nicht im geringsten überschaut. Schüler Schröder, von der Richtigkeit seines Tuns durch den Erfolg überzeugt, kam mehr und mehr auf die schiefe Bahn und schrieb weiter ab, immer weiter, bis er endlich Ministerpräsident war und im Rampenlicht stand. Nun bekam er es mit der Angst zu tun und fürchtete entlarvt zu werden. Um dieser Gefahr auszuweichen, beschloss er, seine Reden nicht mehr, wie bisher, aus dem SPD-Programm abzuschreiben. Er wollte fortan ehrlich sein und eigene Gedanken dem dürstenden Zuhörer mitteilen. Doch Zwangshandlungen kann man nicht so einfach verdrängen. Es kam, wie es kommen musste. Weil er nicht von seinem linken Nachbarn abschreiben wollte, schrieb er von seinem rechten ab. Weil er seine schielenden Augen mit ganzer Kraft vom linken Heft wegzog, rutschte der Blick unvermittelt auf das Heft des rechts neben ihm sitzenden Schülers Schäuble, der mit Schüler Stoiber gerade Spickzettel tauschte und daher abgelenkt war. Sonst hätte er den Gerhard nie abschreiben lassen. Schüler Gerhard nutzte die Gunst des Augenblicks und pinnte ab. Seitenweise!
Was will ein Kanzler Schröder dem kleinen, schwarzhaarigen, furchtbar ausländischen Jungen antworten, der ihn fragt, warum er einen Freiflug mit der Lufthansa bekommt, während Schröder im Jet zwischen Bonn, Hannover und Berlin hin- und herpendelt? Wie will der Erneuerer Schröder die Jugend Deutschlands zu eigener Leistung ermuntern, wenn er so dreist rechte Sudeleien abschreibt? Der Fisch, so sagt man, fängt am Kopf zu stinken an. Oder: Die Treppe muss von oben gekehrt werden. Aber ich will jetzt nicht mehr Staub aufwirbeln, als unbedingt nötig. Wäre ich sein Lehrer, müsste Schüler Schröder nun hundertmal schreiben: Ich darf nicht von den rechten Stammtischen abschreiben. – Solingen 29. Juli 1998